Ball paradox – Zweiklassen-Medizin plötzlich akzeptabel

Seit langem wird über Sinn und Zweck des dualen Krankenversicherungssystems gestritten. Die Befürworter einer „Bürgerversicherung“ oder auch von „Kopfprämien“ beanstanden seit langem mit erheblichem Aufwand und beträchtlichem publizistischen Erfolg die von ihnen so bezeichnete „Zweiklassen-Medizin“ und die damit verbundene „soziale Ungerechtigkeit“, deren Beseitigung nur durch die Abschaffung der Privaten Krankenversicherung (PKV) gelingen könne. Die Vertreter solcher Ideen und erst recht ihre Claqueure in den Medien übersehen dabei geflissentlich, dass es um zwei prinzipiell unterschiedliche Systeme geht, das eine Einkommensfinanziert, das andere auf dem Äquivalenzprinzip basierend, die man so schlicht wie gewünscht und gefordert nicht harmonisieren kann. So hat eine – natürlich viel zitierte – Studie der Bertelsmann Stiftung im Jahre 2020 das für Kenner der Stiftung wenig überraschende Ergebnis erbracht, dass sich die PKV-Versicherten dem „sozialen Ausgleich“ entzögen, indem sie auf ihrem Recht beharrten, private Verträge über alles mögliche und eben auch über ihre Risikoabsicherung im Krankheitsfall abzuschließen. Jeder Versicherte in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), so Bertelsmann, würde dieses unsoziale Verhalten mit jährlich 48 € subventionieren, denn um diesen Betrag könnten die GKV-Beiträge gesenkt werden, wenn endlich alle in den großen Topf der GKV einzahlen würden.

Das ist so schief, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Zunächst einmal bei dem fatalen Prinzip, dass die Gleichbehandlung (Kopfprämie für alle) von Ungleichem (Einkommen, Alter, Krankheitsgeschichte) zwingend zu einer Reduktion von Angebot (Tarifein- statt vielfalt) und Leistung (kontinuierlicher Abbau des Leistungskatalogs) führt. Offenbar erwünschte Konsequenz: danach geht es allen schlechter, Hauptsache es geht allen gleich schlecht. Zweifelhaft sind auch die Bemessungsgrundlagen, auf deren Basis die Beiträge berechnet werden. Ausgeblendet wird nämlich gerne, dass die geplante Bürgerversicherung gar nicht einkommensabhängig funktionieren soll, so dass das Argument der höheren Einnahmen von vorneherein nicht sticht. Und das Bertelsmann-Argument kehrt die tatsächlichen Verhältnisse einfach um: Nicht die GKV-Versicherten subventionieren das völlig anderen Kalkulationsprinzipien folgende System der PKV, sondern die PKV-Versicherten sollen mit ihrem höheren Einkommen und den davon zu berechnenden Beiträgen die Defizite der GKV kompensieren. Das ist im Prinzip nichts anderes als dass Besserverdienende ein „Sonderopfer“ erbringen sollen. Das umzuetikettieren (Subvention der Privatversicherten durch „zu hohe Beiträge“ der gesetzlich Versicherten), ist schon ein dreistes Stück. Und das alles ohne Berücksichtigung der Alterungsrückstellungen. Wenn Bertelsmann diese zig Milliarden auch noch umgewidmet hätte, würde die behauptete „Subvention“ der PKV durch die GKV ins Unermessliche steigen. Oder umgekehrt: Könnte man der Alterungsrückstellungen habhaft werden, würde die GKV auf lange Zeit „entlastet“. Man wundert sich, dass das noch keiner vorgeschlagen hat. Gedacht hat man sicher daran, aber es hat sich keiner getraut, das öffentlich zu sagen.

Seit neuestem aber ist das Gerangel um die Zweiklassen-Medizin verstummt. Fast beängstigend ist die plötzliche Stille im weiten Raum der Medienlandschaft. Was ist geschehen? Die Verteilung der Corona-Impfstoffe, das ist geschehen. Nur Allgemeinmediziner mit Kassenarztzulassung haben einen Anspruch auf das begehrte Gut, Privatpatienten dürfen zwar auch geimpft werden, aber machen Sie mal in dieser Situation einen Termin bei einem Kassenarzt, der Sie gar nicht kennt. Man muss sich nur mal vorstellen, welches Toben angehoben hätte, wenn der Impfstoff nur an Privatärzte gegangen wäre. Impfung in der Reihenfolge der höchsten Steuerzahlungen. Der Teufel wäre los gewesen, wenn man nur als Maßstab nimmt, dass schon eine Diskriminierung von Besitzern einfacher Handys beklagt wird, weil jenen kein Smartphone zwecks besserer Nachverfolgung der Infektionscluster zur Verfügung steht. So aber ist es still geworden, fast so, als wenn den Agitatoren gegen die angebliche Zweiklassen-Medizin die Sache selber peinlich wäre. Sogar beim PKV-Verband scheint sich niemand weiter aufzuregen: auf der Homepage wird der gute Impfstart durch die Einbeziehung von 35.000 Hausarztpraxen gelobt und nur die möglichst rasche Einbeziehung der Fach- und Betriebsärzte gefordert, wenn demnächst mehr Impfstoff zu haben ist. Wahrscheinlich will man kein Öl ins Feuer gießen, angesichts der vielen unverzeihlichen Fehler von Legislative und Executive bei der Pandemie-Bekämpfung. Zu diesen Defiziten zählt auch das häufig gehörte Argument, von einer Diskriminierung der Privatpatienten könne keine Rede sein, denn gegenwärtig gäbe es ohnehin nicht genug Impfstoff, um alle niedergelassenen Ärzte zu bedienen. Da rechtfertigt dann das eine Versagen das andere. Wenn beim Fußball eine Mannschaft mit zwölf Spielern antritt und die andere nur mit zehn, ist das auch nicht weiter nachteilig, solange kein Ball vorhanden ist, mit dem man spielen kann. Ironie der Geschichte: nur nach einer massiven Intervention der Kassenärztlichen Vereinigung wurde die Zuteilung des „schwierigen“ Impfstoffs von AstraZeneca an die Kassenärzte wieder geändert. Ohne die Beschwerde wären die als unproblematisch geltenden Produkte von BionTechPfizer ausschließlich an die Impfzentren verteilt worden. So kann es kommen.