Kafkaesk – Solvency II, der Green Deal und die UN Sustainable Development Goals

Das oberste Ziel von Solvency II war bislang die effizientest mögliche Kapitalausstattung der Versicherungsunternehmen zum Schutz der Versicherten und ihrer Ansprüche. Seine drei Säulen (Finanzausstattung, Risikomanagement und Berichtswesen) sollen das sicherstellen. Nun aber gesellt sich zu diesen ordnungspolitischen Vorgaben eine virtuelle Säule IV: ein rechtspolitisches Diktat zum Kampf gegen den Klimawandel. Was auf den ersten Blick wie eine dystopische Phantasie wirkt, ist teilweise schon Wirklichkeit.

Vor einer Schilderung des materiellen Inhalts der neuen Regelungen scheint ein Blick auf das formelle EU-Recht erforderlich. Nur ein durchschaubares Geflecht sinnvoll ineinandergreifender Regelungen kann zur erforderlichen Transparenz und damit zu einem Konsens über das mehrheitlich Gewollte führen. Daran hapert es. Selbst für den rechtlich vorgebildeten Laien ist das Dickicht von Richtlinien, Verordnungen, delegierten Verordnungen, Beschlüssen, Empfehlungen und/oder Durchführungsakten undurchschaubar geworden. Wie bei den Matrjoschkas, diese ineinander geschachtelten russischen Puppen, findet sich im EU-Recht unter der jeweils äußeren Hülle immer ein neues Püppchen mit einer kleinen Überraschung. Beklagenswert ist auch, dass hierzulande niemand den Subsidiaritätsvorbehalt in Art. 5 Abs. 3 EUV noch ernst zu nehmen scheint (obwohl vor nicht allzu langer Zeit vom scheidenden Vizepräsidenten des BVerfG Professor Kirchhof beredt gefordert), der vielfältig nationales Recht über europäisches stellt, was viele Regelungen des sog. EU-Sekundärrechts unwirksam, überflüssig oder zumindest redundant machen dürfte. Und zu den Mysterien des Europarechts zählt auch die fast zwanghafte Verwendung von nur mühsam zu dechiffrierenden Abkürzungen. Ohne Google-Recherche können nur ausgewiesene Experten auf Anhieb sagen, was sich hinter solchen Akronymen wie AWTID, EVTZ, SITC, SFDR, SFCR oder RSFS verbirgt. Diese Codesprache erinnert an das Kirchenlatein in vorreformatorischer Zeit, als es galt, den Plebs dumm zu halten. Am Motiv dürfte sich nichts geändert haben.

Der nationale Gesetzgeber hat schon resigniert und verzichtet auf eigene Definitionen. Stattdessen verweist er – ironischerweise der Einfachheit halber – auf Europarecht. Ein Beispiel?: § 7 Abs. 1 VVG verlangt etwas so Einfaches wie eine Produktinformation des VN vor Abgabe von dessen Vertragserklärung. In § 7 Abs. 2 VVG wird dann auf nicht weniger als sechs (!) EU-Richtlinien verwiesen (mit einer Rückausnahme für die Lebensversicherung) unter zusätzlicher Beachtung der darauf basierenden „delegierten Rechtsakte“. Jede dieser Richtlinien und die dort genannten delegierten Verordnungen sind umfassend, bergen zahlreiche Weiterverweisungen und bilden das beschriebene Dickicht. Und hinter diesem Formalismus-Nebel ist jetzt neues Ungemach entstanden: Das Investitions- und Zeichnungsverhalten der (Rück)Versicherungsunternehmen muss „grün“ werden. Das Zwangs-Zeitalter der Nachhaltigkeit ist auch für die Versicherungswirtschaft angebrochen. Anlässlich der Überarbeitung von Solvency II hat die EIOPA Empfehlungen abgegeben, die am 23.4.2021 von der Europäischen Kommission akzeptiert und unter dem schönen Titel „EU Sustainable Finance – The April Package“ publiziert worden sind.

Es schwant schon etwas, wenn man den Hashtag „InvestGreen“ sieht und tatsächlich: Das „Package“ basiert offenbar auf dem Fridays-for-Future-Slogan: Let’s make the rich pay. Wie sonst soll man es verstehen, wenn ab 2022 Solvency II zu einem „verbesserten Nachhaltigkeitsumfeld“ führen muss? Ein bloß risikobasiertes Solvenzregime wird ausdrücklich für inakzeptabel und unzureichend erklärt, wenn und soweit nicht die Auswirkungen des Klimawechsels beachtet werden. Aber das reicht (noch lange) nicht. Die Bekämpfung des Klimawechsels ist nur die allgemeine Grundlage künftigen Handelns, das eingeforderte Nachhaltigkeitsregime muss zusätzlich dem Europäischen „Green Deal“ und den 17 UN-SDG (Sustainable Development Goals) gerecht werden. Dieser „Green Deal“ soll Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent machen und sieht einen umfassenden Aktionsplan vor, der aber nicht mehr als ein schlichtes Absichts- und Hoffnungsszenario sein kann, solange die restliche Welt auf Atom- und Kohlekraftwerke setzt und unsere freigewordenen Co2-Zertifikate aufkauft. Sicher ist hier nur die Drohung in der Einleitung: alle „Wirtschaftssektoren müssen einen aktiven Beitrag“ leisten. Und die UN-SDG enthalten den gesamten Sehnsuchtskatalog nach einer besseren Welt: „Keine Armut“ mehr, „Kein Hunger“, idealisierte Vorstellungen von einem „Leben unter Wasser“ oder „Leben an Land“. Die Bundesregierung hat ihre auf diesen „Goals“ basierende Nachhaltigkeitspolitik (unter albernen Puppenbildern, die wohl Harmlosigkeit signalisieren sollen) substantiiert. Für den Kampf gegen den Hunger zum Beispiel vor allem mit einer aktiveren Afrikapolitik und einer inklusiveren Sozialpolitik. Alles ganz toll, aber was hat das mit dem Schutz der Versicherten vor einer unzureichenden Kapitalausstattung ihres Versicherers zu tun? Unter dem Goal „Gesundes Leben“ wird eine globale Verbesserung der Krankheitsvorsorge beworben und eine bessere Pflege. Super, aber wie soll man hier einen Zusammenhang mit der Kapitalallokation von Versicherungsunternehmen und deren sachgerechter Risikobeurteilung herstellen können?

Auch wenn ein Zwang zum ausschließlichen Investment in „grüne“ Anlageklassen selbst von der EIOPA als „zu riskant“ angesehen wird, soll dieses Risiko die Unternehmen dennoch nicht davon abhalten, nachhaltig zu investieren oder aber ihre Zeichnungspolitik zu ändern, vulgo: unerwünschte, weil klimaschädliche Risiken nicht mehr zu versichern. Zu diesem Zweck muss der Versicherer seine Nachhaltigkeitsrisiken ebenso neu definieren wie seine „bevorzugten“ Nachhaltigkeitsziele. Das Ergebnis muss er sodann in seine aktuariellen Funktionen und sein Risikomanagement implementieren. Und bei Vergütungsfragen wird das Ergebnis am Ende eine gewichtige Rolle spielen, ein nicht zu gering einzuschätzendes Drohszenario für resistente Unternehmensleiter. Nichts wird dem Zufall überlassen. Die EU Taxonomy Regulation 2020 (ein 10-Punkte-Aktionsplan zur Angleichung der Finanzmärkte bei Nachhaltigkeitsinvestitionen) und die Regulation EU 2019/2088 vom 27.11.2019 mit dem schönen Kürzel SFDR (Sustainable Finance Disclosure Regulation) sind weitere Matrjoschkas und flankieren den Green Deal. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als die seit dem 10.3.2021 verbindliche Pflicht zur Information der Anleger über die Erreichung „grüner“ Ziele in Bezug auf Ernährung, Freizeit, Kleidung, Reisen, also kurzum alles, was den Verbraucher so bewegt. Das ESA (European Supervisory Authorities) „Supervisory Statement” vom 25.2.2021 rundet das Bild. Es sorgt für eine einheitliche Anwendung der Berichtspflichten über die Nachhaltigkeitsmaßnahmen, aber nur vorläufig bis zu einer endgültigen Einführung neuer RTS (Regulatory Technical Standards). Hier wird eine „Corporate Sustainability Reporting Directive“ (CSRD) in Aussicht gestellt, mit der verlässliche, vergleichbare und nachvollziehbare Berichte über den Umgang mit den Nachhaltigkeitszielen sichergestellt werden.

Die Fülle der Regeln, ihre komplexen Verschlingungen und die verwandten Kürzel, das alles trägt geradezu kafkaeske Züge. Auch der Landvermesser K. sah sich hilflos anonymen Mächten ausgesetzt. Es scheint in Vergessenheit zu geraten, dass der Vorstand eines Versicherungsunternehmens im Wesentlichen zwei Gruppen verantwortlich ist: seinen Versicherungsnehmern und seinen Anteilseignern. Nicht verantwortlich ist er einem Staatenverbund, das nach Drittmitteln zur Finanzierung eines „Green Deals“ sucht, dessen „Fit-for-55“-Konturen verschwommen sind und dessen Umsetzung kryptisch. Natürlich ist Umwelt- und Klimaschutz ein wichtiges und vernünftiges Ziel staatlichen Handelns. Aber darf man ganze Wirtschaftszweige in eine dirigistische Zwangsjacke stecken? Wer oder was legitimiert die jedenfalls nicht vom Volk gewählten EU-Paladine dazu? Es scheint mit dem Vertrauen in die Überzeugungskraft des eigenen Green Deals nicht weit her zu sein, wenn ein derart exzessives Oktroy für erforderlich gehalten wird. Das Ganze erinnert fatal an die konzertierte Aktion des französischen Präsidenten Francois Mitterand und des EU-Kommissars Jaques Delors in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts: weil sie rasch erkannten, dass ihre sozialistische Sozial- und Finanzpolitik national nicht durchsetzbar war, realisierten sie ihre Planziele unkontrolliert von Wählern, Parlamenten und Gerichten durch die europäische Hintertür. Diese Manöver ist gelungen, weil nur eine gewisse Maggie Thatcher anfänglich Widerstand leistete, dann aber von den europhiles in ihrer eigenen Regierung zum Rücktritt gezwungen wurde. Geschichte scheint sich doch zu wiederholen. Jedenfalls für den, der sie nicht kennt.