Kann das Gesetz durch „schweigende“ AVB abbedungen werden?

Zur Anrechnung von Kosten und Zinsen nach § 101 Abs. 2 VVG

Das OLG Düsseldorf hat im Urteil vom 13.12.2019 (I-4 U 23/18, VersR 2020, 683), das sich prima facie mit der Erschöpfung einer Grunddeckung und der Eintrittspflicht einer Anschlussversicherung befasst, zwei bis drei Sätze zur Gestaltung von AVB aufgenommen, die höchste Aufmerksamkeit verdienen. Es ging um die Eintrittspflicht eines Excedentenversicherers nach Erschöpfung der Versicherungssumme des Grundlayers. Für den Verbrauch der Versicherungssumme in der Haftpflichtversicherung, also auch der D&O-Versicherung, kommen drei Zahlungspositionen in Frage: zunächst die Freistellung von Schadensersatz, sodann alternativ oder – nach verlorenem Haftungsprozess – kumulativ Abwehrkosten und schließlich Verzugs- und/oder Prozesszinsen. In Bezug auf die beiden zuletzt genannten Alternativen trifft § 101 Abs. 2 VVG eine nach bisherigem Verständnis eindeutige Regelung: Satz 1 besagt, dass Abwehrkosten nicht auf die Versicherungssumme angerechnet werden, diese also zusätzlich gezahlt werden müssen. Und Satz 2 sagt, dass das auch für Zinsen gilt, aber nur, wenn und soweit sie vom Versicherer veranlasst wurden. Bei Satz 1 (Kosten) wird gestritten, ob die Regelung abdingbar ist. Darum soll es hier nicht gehen (nur vorsorglich: natürlich ist Abs. 2 Satz 1 abdingbar). Auch nicht um die Frage nach Kosten-Quotierungen, die sich stets stellt, wenn der Geschädigte neben berechtigten auch unbegründete Schadensersatzzahlungen geltend macht oder der geltend gemachte Betrag von vorneherein über der vereinbarten Versicherungssumme liegt. Im Fall von Satz 2 (Zinsen) streitet sich niemand. Allzu klar scheint die gesetzliche Regelung, wonach Zinsen eben nur dann nicht anzurechnen – also zusätzlich zu zahlen – sind, wenn sie vom Versicherer veranlasst wurden. Sind dem unbestritten geschuldeten Schadensersatz Zinsen hinzuzurechnen, ist davon auch freizustellen, die vereinbarte Versicherungssumme ist die Grenze.

Bei Abwehrdeckung gilt: War die Abwehr erfolgreich, wird gar nichts geschuldet und also auch nichts angerechnet. Nur, wenn der Versicherer eine im Ergebnis erfolglose Anspruchsabwehr initiiert hat, sind die Zinsen dafür zusätzlich zur Versicherungssumme zu zahlen. Im konkreten Fall ging auch der Makler der Versicherungsnehmerin von einer Abdingbarkeit der Kostenanrechnungsregel (§ 101 Abs. 2 Satz 1 VVG) aus. Also hat er eine entsprechende Klausel in Ziff. 2.3 der Makler-AVB HPDO 2007 aufgenommen. Danach sollen auf die Versicherungssumme „neben Schadensersatzzahlungen ausschließlich externe Abwehrkosten angerechnet“ werden. Und in diesem Zusammenhang folgen dann die fraglichen Sätze. Im Urteil des OLG Düsseldorf (VersR 2021, 683, 685 unter III 5 a aa) heißt es zunächst in Bezug auf die fragliche Anrechnungsklausel:

„§ 101 Abs. 2 VVG ist hinsichtlich Zinsen jedenfalls nicht abbedungen. (…). Bereits im Umkehrschluss zur ausdrücklichen Regelung der Anrechnung von Abwehrkosten kann das (…) nur so verstanden werden, dass es hinsichtlich der Zinsen bei der Regelung des § 101 Abs. 2 VVG bleiben soll.“

So weit, so gut. Kosten können von der Versicherungssumme abgezogen werden, Abs. 2 Satz 1 wurde durch die AVB – auch nach Auffassung des OLG Düsseldorf offenbar wirksam – abbedungen. Zinsen nicht, wenn und soweit vom Versicherer veranlasst, Abs. 2 Satz 2. Aber unter III 5 a cc (VersR 2020, 683, 685) heißt es dann weiter:

„Dadurch, dass die Parteien allein die Anrechnung der Kosten vereinbart haben, haben sie zugleich die Regelung des § 101 Abs. 2 Satz 2 VVG dahingehend modifiziert, dass es keiner vom Versicherer veranlassten Verzögerung der Befriedigung des Dritten als weiterer Voraussetzung für eine unterbliebene Anrechnung der Zinsansprüche bedarf.“

Achtung! Wenn man den komplizierten Wortlaut recht versteht, soll das Schweigen in den AVB das Gesetz ändern: es bedarf danach keiner Verzögerung als Voraussetzung für eine zu unterlassende Anrechnung der Zinsen auf die Versicherungssumme. Also muss der Versicherer die Zinsen immer zusätzlich zur Versicherungssumme zahlen, auch wenn das Gegenteil im Gesetz steht. Das Weglassen eines bestimmten Regelungstatbestands (hier: Zinsen) führt also dazu, dass die entsprechende gesetzliche Regelung „modifiziert“ wird (vulgo: sie schlicht nicht mehr zur Anwendung kommen soll). Und das, obwohl nur sieben Absätze zuvor ausdrücklich gesagt wird, dass die fragliche Vertragsgestaltung es bei der gesetzlichen Regelung (hier: § 101 Abs. 2 VVG) belässt. Lieber Bedingungsgeber: Wenn das richtig ist, dann reicht es nicht (mehr), bestimmte Dinge in die AVB zu schreiben und im Übrigen das Gesetz zur Anwendung kommen zu lassen. Ab sofort muss der Verwender alles, was schon im Gesetz geregelt ist, zusätzlich in seine AVB aufnehmen. Sonst wird die gesetzliche Regelung „modifiziert“. Eine solche affirmative Regelung muss das Gesetz wiederholen, zumindest aber bestimmen: Das Gesetz gilt weiterhin. Unterlässt der AVB-Verwender das, ist das Gesetz durch Nichtregelung abbedungen. Schweigen bedeutet Abschaffung. Wenn also der Bedingungsgeber einer Haftpflichtversicherung im Katalog seiner Ausschlüsse eine Vorsatztat weglässt, dann gilt § 103 VVG nicht mehr, sondern er fällt der „Modifikation“ anheim!

Es scheint auf der Hand zu liegen, dass dieser Weg nicht gangbar ist. Nicht nur, dass ein solches Bestätigungserfordernis zur völligen Intransparenz der Bedingungen führt, ganz zu schweigen von der damit verbundenen Umfangszunahme. Sondern es greift der Gesetzesvorbehalt: wo die Bedingungen schweigen, gilt das Gesetz. Und wo die Bedingungen unwirksam sind, gilt auch das Gesetz, § 306 Abs. 2 BGB (vgl. zuletzt Boetius, Anmerkung zu OLG Köln, VersR 2021, 95, für die Prämienanpassung in der PKV); allg. Prölss/Martin/Armbrüster, VVG, Einl. Rz. 201; Langheid/Rixecker/Rixecker, VVG, § 1 VVG Rz. 106;). Für eine Modifikation des Gesetzes bedarf es also einer positiven Regelung. So wie in der eingangs zitierten Anrechnungsklausel, die konkret eine Anrechnung nur von Schadensersatzzahlungen und externen Abwehrkosten vorsieht. Andererseits: das Erfordernis einer Affirmation bietet ja auch Chancen. Alles, was im VVG nicht halbzwingend geregelt ist, kann ab sofort durch Weglassen außer Kraft gesetzt werden. Nur Mut!