BVerfG: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung von Schmerzensgeld nach rechtswidriger Freiheitsentziehung

Mit Beschluss vom 29. 6. 2016 hat die 3. Kammer des Ersten Senats des BVerfG einer Verfassungsbeschwerde gegen die Abweisung einer Schmerzensgeldklage stattgegeben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das LG zurückverwiesen.

Tatbestand:

Im Ausgangsverfahren klagte der Beschwerdeführer erfolglos auf Zahlung eines Schmerzensgeldes, weil er im Zusammenhang mit Protesten gegen einen Castortransport rechtswidrig in Gewahrsam genommen worden war. Die Klageabweisung verletzte den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) und in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG), da das LG insbesondere die Bedeutung der Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG nicht in die gebotene Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls einbezogen hat.

Der Beschwerdeführer nahm vom 26. auf den 27. 11. 2011 anlässlich eines Castortransports an der Blockade einer Bahnstrecke teil. Der Aufforderung der Polizei, sich zu entfernen, kam der Beschwerdeführer nicht nach. Daraufhin verbrachte die Polizei ihn in eine naheliegende Gewahrsamseinrichtung, die er gegen Mittag des folgenden Tages wieder verlassen konnte. Auf Antrag des Beschwerdeführers stellte das zuständige LG zunächst fest, dass die Freiheitsentziehung wegen Verstoßes gegen den Richtervorbehalt rechtswidrig gewesen war. Die Frage der Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme als solcher ließ das LG offen.
Die hierauf erhobene Klage auf Zahlung eines Schmerzensgeldes wies das LG mit angefochtenem Urteil ab. Die Gehörsrüge blieb ebenfalls ohne Erfolg. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer vornehmlich eine Verletzung seines Grundrechts auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) und seiner Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG). Die Erwägungen, aufgrund deren das LG einen Anspruch des Beschwerdeführers auf Geldentschädigung für den erlittenen rechtswidrigen Freiheitsentzug verneint hat, werden der Bedeutung der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 und Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG nicht gerecht.

Aus den Gründen:

1. Das BVerfG hat bereits entschieden, dass der Schutzauftrag des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch den Anspruch auf Ausgleich des immateriellen Schadens verwirklicht wird. Dies gilt nicht weniger, wenn auch das Grundrecht auf Freiheit der Person betroffen ist. Dass eine Geldentschädigung wegen der Verletzung immaterieller Persönlichkeitsbestandteile nach der zivilgerichtlichen Rechtsprechung nur unter der Voraussetzung einer hinreichenden Schwere und des Fehlens einer anderweitigen Genugtuungsmöglichkeit beansprucht werden kann, ist verfassungsrechtlich und auch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR unbedenklich.

2. In den angegriffenen Entscheidungen verkennt das LG die Anforderungen an die Verwirklichung des grundrechtlichen Schutzes, indem es seine Auffassung, dass die von dem Beschwerdeführer erlittene Rechtseinbuße durch die gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit des Gewahrsams hinreichend ausgeglichen sei, allein auf eine Würdigung der Umstände der Durchführung des Gewahrsams gestützt hat. Demgegenüber wird die Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG nicht in die gebotene Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls einbezogen.
Zu beanstanden ist insbesondere, dass das LG in der mindestens achtstündigen rechtswidrigen Festsetzung des Beschwerdeführers keine nachhaltige Beeinträchtigung gesehen hat, ohne die abschreckende Wirkung zu erwägen, die einer derartigen Behandlung für den künftigen Gebrauch des Rechts auf Versammlungsfreiheit zukommen kann.
Soweit das LG zur Begründung der Abweisung der Geldentschädigung auf den Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 11. 11. 2009 (1 BvR 2853/08 – VersR 2010, 820) Bezug nimmt und ausführt, die Fallgestaltungen seien nicht vergleichbar, da sich der Beschwerdeführer im vorliegenden Verfahren rechtswidrig im Bereich des Bahnkörpers aufgehalten habe, verkennt es, dass dies für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Rechtmäßigkeit, Durchführung und Dauer der Ingewahrsamnahme gerade des Beschwerdeführers unbeachtlich ist.
Das Absehen von einer Entschädigung kann auch nicht darauf gestützt werden, dass die durchgeführte Freiheitsentziehung ohne richterliche Entscheidung lediglich ein Abwicklungsproblem der Polizei angesichts der großen Anzahl festgesetzter Versammlungsteilnehmer war. Die Polizei hat vielmehr über viele Stunden nicht die gebotenen Anstrengungen unternommen, um eine richterliche Entscheidung herbeizuführen oder die Festsetzung
zu beenden.
BVerfG, Beschluss vom 29. 6. 2016 (1 BvR 1717/15)
(Pressemitteilung Nr. 54/2016 vom 10. 8. 2016)