EuGH: Mindestentschädigung für die Opfer von vorsätzlich begangenen Gewalttaten in grenzüberschreitenden Fällen

Die Mitgliedstaaten müssen für die Opfer nicht nur Zugang zu einer Entschädigung entsprechend dem Verbot der Diskriminierung gewährleisten, sondern vor allem auch eine Mindestentschädigung bei allen Arten von Gewalttaten.

Gemäß der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. 4. 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten (ABlEG 2004 L 261 S. 15) sollten Opfer vorsätzlicher Gewalttaten unabhängig davon, an welchem Ort in der EU die Straftat begangen wurde, Anspruch auf eine gerechte und angemessene Entschädigung für die ihnen zugefügte Schädigung haben. Die Mitgliedstaaten müssen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen.

In Italien ist in verschiedenen „Spezialgesetzen“ unter bestimmten Umständen eine staatliche Entschädigung von Opfern bestimmter Arten von vorsätzlichen Gewalttaten (insbesondere Straftaten, die einen Bezug zum Terrorismus oder zur organisierten Kriminalität aufweisen) vorgesehen. Seit Umsetzung der Richtlinie in Italien gelten diese Gesetze auch in grenzüberschreitenden Fällen (in aller Regel, wenn das Opfer eines in Italien begangenen Delikts Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist).

Die Kommission erhob beim Gerichtshof eine Vertragsverletzungsklage gegen Italien. Sie machte geltend, Italien habe dadurch gegen seine unionsrechtlichen Verpflichtungen verstoßen, dass es keine allgemeine Entschädigungsregelung eingeführt habe, die alle Arten von vorsätzlichen Gewalttaten in grenzüberschreitenden Fällen erfassen könne (wie Vergewaltigung, schwere sexuelle Übergriffe, Tötungsdelikte, schwere Körperverletzungsdelikte und generell jede Straftat, die nicht unter die „Spezialgesetze“ falle).

Italien hielt dem entgegen, dass es seinen Verpflichtungen aus der Richtlinie nachgekommen sei. Nach seiner Ansicht ergibt sich aus der Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat nur den Zugang zu den Entschädigungssystemen ermöglichen müssten, die bereits nach ihrem jeweiligen Recht für ihre Staatsangehörigen bestünden.

In seinem Urteil weist der Gerichtshof darauf hin, dass das durch die Richtlinie eingeführte System der Zusammenarbeit verlangt, dass das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit beachtet wird, wenn es darum geht, dass Opfer von Straftaten in grenzüberschreitenden Fällen Zugang zur Entschädigung erhalten. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten auch, zum Schutz der Freizügigkeit in der Union nationale Regelungen zu erlassen, die in diesen Fällen eine gerechte und angemessene Mindestentschädigung für die Opfer aller im Inland vorsätzlich begangenen Gewalttaten gewährleisten.

Die Mitgliedstaaten sind grundsätzlich befugt, die Bedeutung des Begriffs „vorsätzliche Gewalttat“ im innerstaatlichen Recht zu klären. Sie können jedoch nicht den Anwendungsbereich der Opferentschädigungsregelung auf nur bestimmte vorsätzliche Gewalttaten beschränken.

Der Gerichtshof gelangt zu dem Ergebnis, dass Italien dadurch, dass es nicht alle Maßnahmen ergriffen hat, die erforderlich sind, um sicherzustellen, dass in grenzüberschreitenden Fällen eine Regelung für die Entschädigung der Opfer aller in seinem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten besteht, die Richtlinie nicht korrekt umgesetzt hat.

EuGH, Urteil vom 11. 10. 2016 (Rs C-601/14)

(Pressemitteilung Nr. 109 vom 11. 10. 2016)