Rezension: Die kartellrechtliche Zulässigkeit von Musterversicherungsbedingungen

Das Werk „Die kartellrechtliche Zulässigkeit von Musterversicherungsbedingungen“ greift ein Spezialthema auf, das zu den Evergreens des Versicherungskartellrechts gehört. Jahrelang hat die Erarbeitung und Bekanntgabe von Musterversicherungsbedingungen von einer ausdrücklichen Freistellung vom Kartellverbot durch eine europäische – und auch im deutschen Recht geltende – Gruppenfreistellungsverordnung profitiert. Diese seit dem 1. 4. 1993 geltende Rechtslage wurde mit der Verordnung 267/2010 im Jahr 2010 aufgehoben. Seitdem stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Erarbeitung und Bekanntgabe von Musterversicherungsbedingungen, insbesondere durch Verbände der Versicherungswirtschaft, gegen das Kartellverbot verstoßen, kartellrechtsneutral oder durch allgemeine Freistellungsregelungen vom Kartellverbot freigestellt sind. Die Autorin des Werks geht den Versuch der Klärung dieser Frage sehr akribisch an.

Zunächst wird in Kap. 1 der Bearbeitung eine Begriffsbestimmung vorgenommen. Interessant hierbei ist vor allem eine Unterscheidung von Musterversicherungsbedingungen nach Funktion und Inhalt, wie sie sich in jüngerer Zeit durchgesetzt hat. So werden produktgestaltende AVB, einfache AVB und preisfestlegende AVB definiert. Sodann werden die Funktionen von Musterversicherungsbedingungen, wie z. B. eine Erhöhung von Markttransparenz, die Erleichterung der gemeinsamen Statistikarbeit, Kosteneinsparungen, Erhöhung der Rechtssicherheit, Förderung der Kompatibilität verschiedener Versicherungen und die Förderung der Entwicklung neuer und verbesserter Versicherungen dargestellt.

Das Kap. 2 widmet sich einer Erläuterung der Entwicklung der kartellrechtlichen Beurteilung von Kooperationen auf den Versicherungsmärkten. Neben detaillierten Ausführungen zum deutschen und europäischen Versicherungskartellrecht werden die Gründe für die Nicht-Verlängerung der automatischen Freistellung von Musterversicherungsbedingungen im Rahmen der im Jahr 2010 in Kraft getretenen Gruppenfreistellungsvereinbarung für die Versicherungswirtschaft dargestellt. Sodann bietet die Autorin einen Überblick über die europäische Rechtspraxis zu Musterbedingungen sowie einen umfassenden Überblick über die Horizontalleitlinien der Europäischen Kommission, die nunmehr für die Beurteilung von Musterversicherungsbedingungen (mit)maßgeblich sind. Dargestellt wird auch, wie Verbände und Unternehmen Rechtssicherheit hinsichtlich der kartellrechtlichen Bewertung ihrer Kooperationen erlangen können. Erwähnt wird das Instrument der Erklärung der Nichtanwendbarkeit des Kartellverbots durch die Europäische Kommission, Beratungsschreiben der Europäischen Kommission sowie Orientierungshilfen durch das Bundeskartellamt.

In Kap. 3, das den Schwerpunkt des Werkes bildet, widmet sich die Autorin einer eingehenden Untersuchung, wie Musterversicherungsbedingungen nach heutigem Rechtsstand kartellrechtlich zu beurteilen sind. Naheliegenderweise wählt sie für die Darstellung das klassische Prüfungsschema für die Beurteilung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen nach Art. 101 Abs. 1 AEUV und deren Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV. Sie unterscheidet hierfür produktgestaltende AVB, einfache AVB und preisfestlegende AVB. AVB, die das Produkt Versicherung und deren Inhalt beschreiben und dadurch gestalten, werden als produktgestaltende AVB bezeichnet. Einfache AVB regeln Aspekte wie die Fälligkeit der Prämie, Gerichtsstände und das anwendbare Recht. Preisfestlegende AVB betreffen die Hauptleistung der VN, also die Bruttoprämien oder deren konkrete Berechnung. Die Autorin kommt zu dem Ergebnis, dass die Erarbeitung und Bekanntgabe von Musterversicherungsbedingungen grundsätzlich wettbewerbsbeschränkenden Charakter haben kann, wenn und soweit es sich um produktgestaltende und/oder preisfestlegende Musterversicherungsbedingungen handelt. Einfache Musterversicherungsbedingungen könnten nur im Ausnahmefall wettbewerbsrelevant sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Bedingungen eine zu starke zeitliche Bindung der VN an den Versicherer regeln oder eine zu starke Standardisierung im Hinblick auf Aspekte erreicht wird, die für die Auswahlentscheidung der potenziellen VN relevant sind. Problematisch ist es grundsätzlich, wenn selbst unverbindliche produktgestaltende Musterversicherungsbedingungen sich zu einem De-facto-Standard entwickelt haben.

Die kartellrechtliche Relevanz von Musterversicherungsbedingungen führt aber nach der zutreffenden und gut begründeten Feststellung der Autorin nicht dazu, dass die gemeinsame Erarbeitung von Musterbedingungswerken kartellrechtlich unzulässig ist. Bei Beachtung wesentlicher Voraussetzungen dürfte die Erarbeitung von Musterversicherungsbedingungen vielmehr regelmäßig vom Kartellverbot freigestellt sein. Hierzu braucht es keine spezielle gesetzliche Gruppenfreistellung. Vielmehr lässt sich dies auch aus den allgemeinen Freistellungsregelungen ableiten. Die Autorin führt dies darauf zurück, dass Musterversicherungsbedingungen einzelne Wettbewerbsfunktionen grundsätzlich besser erfüllen können als der unbeschränkte Wettbewerb. Gründe hierfür seien vor allem die geringe Markttransparenz zulasten der VN auf den Versicherungsmärkten für Massenrisiken und die Unsicherheit der Versicherer bei der Prämienkalkulation, die durch Musterbedingungen abgefedert werden könne. Wesentliche Voraussetzung für eine solche Freistellung ist allerdings, dass produktgestaltende Musterversicherungsbedingungen keine diskriminierenden Risikoausschlüsse enthalten, sich nicht negativ auf die Höhe der Bruttoprämien auswirken und generell nicht preisfestlegend sind. Außerdem müssen die Bedingungen unverbindlich und uneingeschränkt zugänglich sein und die Möglichkeit der uneingeschränkten Beteiligung von Wettbewerbern muss bei der Festlegung gewährleistet sein.

Die einzelnen Kriterien werden von der Autorin sehr detailliert dargestellt und erörtert. Interessant ist noch die zutreffende Feststellung, dass die Erfüllung der Freistellungsvoraussetzungen der im Jahr 2010 abgelaufenen Gruppenfreistellungsverordnung nicht die Erfüllung der Einzelfreistellungsvoraussetzungen indiziert. Das heißt, sämtliche heute existierenden und neu veröffentlichten Musterversicherungsbedingungen dürfen sich nicht allein an vormaligen Voraussetzungen einer abgelaufenen Gruppenfreistellungsverordnung orientieren, sondern müssen die aktuellen Kriterien einer Einzelfreistellung erfüllen, um kartellrechtskonform zu sein.

Insgesamt bietet das Werk einen eingehenden Überblick über den Diskussionsstand zur kartellrechtlichen Bewertung von Musterversicherungsbedingungen und kommt zu sehr gut vertretbaren Ergebnissen. Es wird damit zur bedeutenden Lektüre für jeden, der sich mit dem Versicherungskartellrecht und insbesondere mit dem Thema Musterversicherungsbedingungen beschäftigt.

Der Rezensent, Prof. Dr. Fabian Stancke, lehrt Kartell-, Gesellschafts- und Versicherungsrecht an der Brunswick European Law School und Kartellrecht am Europa-Kolleg Hamburg.

 

Die kartellrechtliche Zulässigkeit von Musterversicherungsbedingungen
Von Raphaela Thunnissen
(Verlag Versicherungswirtschaft, Karlsruhe 2015, 400 S., kart., DIN A5, ISBN 978-3-89952-899-2, 55 Euro; Bd. 134 der Münsteraner Reihe)

(Die Rezension wurde abgedr. in VersR 2017, 77)