Rezension: Fälle aus der versicherungsmedizinischen Praxis

Fälle aus der versicherungsmedizinischen Praxis
Eine Einführung in die Versicherungsmedizin anhand von Praxisbeispielen

Von Rainer Hakimi
(Verlag Versicherungswirtschaft, Karlsruhe 2015, 195 S., kart., ISBN 978-3-89952-858-9, 29 Euro)
Der Autor bezeichnet die dargestellten Fälle als eine Negativauswahl aus der relativ kleinen Gruppe von Fällen, in denen die private Krankenversicherung (teilweise) nicht leisten konnte, weil die Behandlung medizinisch nicht notwendig war.
Die Darstellung beginnt mit zehn versicherungsmedizinischen Beiträgen. Diese betreffen u. a. Naturheilverfahren und die Abgrenzung von der Alternativmedizin, deren Diagnose- und Behandlungsmethoden besonders intensiv bei unheilbaren oder schwer therapierbaren Krankheiten und bei vielen gynäkologischen, dermatologischen, orthopädischen, rheumatologischen und internistischen Krankheitsbildern eingesetzt würden. Die Alternativmedizin sei zu einem milliardenschweren Markt geworden, der in Deutschland wahrscheinlich eine zweistellige Milliardensumme an direkten Kosten erfordere. Der Gesamtumsatz allein der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) solle in Deutschland 3,2 Mrd. Euro jährlich betragen mit einer Wachstumsrate im zweistelligen Bereich.
In weiteren Kapiteln werden u. a. Akupunktur, Homöopunktur, Testosteronsubstitution, erweiterte ambulante Physiotherapie, ADHS und Ergotherapie eingehend dargestellt. Den Abschluss der versicherungsmedizinischen Beiträge bildet eine Abhandlung über versicherungsmedizinische Beratung in der privaten Krankenversicherung. Aus diesem Beitrag wird deutlich, dass Tätigkeit und Aufgabengebiet des Gesellschaftsarztes in der privaten Krankenversicherung heute weitgehend unbekannt sind. Das Tätigkeitsfeld betreffe u. a. die Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit von Medikamenten und viele Punkte mehr.
Der zweite Teil des Buches stellt Fälle aus der versicherungsmedizinischen Praxis vor. Dabei geht es zunächst um Überdiagnostik und Maximaldiagnostik bei einem unruhigen Kind. Zwei weitere kurze Abhandlungen befassen sich mit humangenetischen Untersuchungen bei einem Säugling mit breiter Nasenwurzel und mit einer ungezielten Vorsorgeuntersuchung mittels Elektronenstrahltomografie. Sie zeigen auf, dass im Bereich der Krankenversicherung, besonders im Bereich der privaten Krankenversicherung, manchmal Ressourcen ver(sch)wendet würden für Spezial­untersuchungen, die ohne jegliche klinische oder therapeutische Relevanz seien, und dass im Rahmen von ungezielten Vorsorgeuntersuchungen radiologische Methoden intensiv vermarktet würden. Relativ neue Untersuchungsmethoden wie Elektronenstrahltomografie, virtuelle Koloskopie und Positronenemissionstomografie (PET) seien als Screeningmethode weder etabliert noch geeignet, verursachten unverhältnismäßig hohe Kosten und könnten deshalb im Zusammenhang mit der ungezielten Vorsorge nicht als medizinisch notwendig angesehen werden. Das zeige auch ein weiterer Fall, bei dem es darum ging, die Ursache von Schmerzen im Fuß einer Frau zu ergründen. Nach unauffälligem Röntgenbefund seien eine Ganzkörperskelettszintigrafie, eine Funktionsszintigrafie, eine szintigrafische Abbildung des Blutpools und vier Single-Photonen-Emissions-Computertomografien (SPECT) zweimal im Bereich der gesamten Wirbelsäule und des Beckens und zweimal im Bereich der Füße durchgeführt worden.
Auch andere Untersuchungen werden vorgestellt, u. a. ein gesundheitlicher Check-up für 4300 Euro, eine umweltmedizinische Abklärung von Neurodermitis für 3000 Euro, eine virtuelle Koloskopie bei Stuhlunregelmäßigkeiten und ein „Bauch-weg-Check“ für 1600 Euro.
Der Autor prangert einen „Teuren medizinischen Check-Up im schönen Tirol“ ebenso an wie die kiloweise Verordnung von Bio-Pastillen. In einem weiteren Beitrag wird bezweifelt, dass eine Dauerbehandlung mit Akupunktur im Rahmen der Schwangerschaftsförderung und Verhinderung von Aborten medizinisch notwendig sei, weil in diesen Bereichen eine Akupunktur eindeutig ohne erwiesene Wirksamkeit sei.
In den Bereich der unwirksamen Therapien gehört nach Auffassung des Autors auch die Behandlung eines Muskelfaserrisses mittels Hochtontherapie, die Behandlung einer Struma Diffusa mit getrockneter kapsulierter Schweineschilddrüse oder die Behandlung eines fraglichen Prostatakarzinomrezidivs mit onkolytischen Viren, dendritischen Zellen und Hitzeschockproteinen bei einem niedergelassenen Naturheilkundler, weil diese keine leitliniengerechte Behandlung und nicht erfolgversprechend seien.
Im vorletzten Abschnitt des Buches werden teure Behandlungen im Ausland vorgestellt, u. a. Kurbehandlungen in der Schweiz, eine Appendektomie in Philadelphia, Diagnostik und Behandlung einer vermeintlichen Schwermetallvergiftung beim Gesunden in einer Schweizer Präventivklinik, eine teure Kurbehandlung mit Nahrungsergänzungsmitteln am schönen Wörthersee und eine Schulteroperation in der schönen Schweiz, mehr als achtmal so teuer wie in Deutschland. Der letzte Abschnitt stellt drei Behandlungen von „Nichtzahlern“ vor.
Der Autor, Leitender Gesellschaftsarzt und Betriebsarzt, hat in diesem Buch Behandlungsfälle aus der versicherungsmedizinischen Praxis vorgestellt, in denen die private Krankenversicherung nicht geleistet hat, nicht leisten konnte. Als wichtige Gründe dafür nennt er unwirksame Präparate oder Behandlungsmethoden, nicht indizierte Diagnostik oder Therapie sowie Überdiagnostik und Übertherapie. Das Buch richtet sich insbesondere an Mitarbeiter der Leistungs- und Rechtsabteilungen der privaten Krankenversicherungsunternehmen und an medizinische Gutachter sowie an alle Ärzte, die mit den Besonderheiten der privaten Krankenversicherung befasst sind. Der Verfasser will ferner interessierte Versicherte ansprechen, die wissen wollen, für welche Behandlungen eine Erstattung aus welchen Gründen möglicherweise nicht zu erwarten ist.
Auch Mediziner, die die in dem Buch geschilderten Leistungen anbieten, sollten mit Blick auf § 630 c Abs. 3 BGB bedenken, dass sie verpflichtet sind, ihre Patienten vor Beginn der Behandlung über die voraussichtlichen Kosten der Behandlung in Textform zu informieren. Tun sie dies nicht, laufen sie Gefahr, ihre Liquidation nicht realisieren zu können.
Der Rezensent, Lothar Jaeger, ist Vorsitzender Richter am OLG Köln a. D. und Mitglied der Schriftleitung der Zeitschrift Versicherungsrecht.

(abgedr. in VersR 2016, 970)