OLG Hamm: Nachzügler muss warten, wenn der Querverkehr schon länger Grün hat

Wer bei Grünlicht in eine Kreuzung einfährt und dann aufgrund eines Rückstaus den Kreuzungsbereich für längere Zeit nicht räumen kann, darf nicht blindlings auf seinen Status als bevorrechtigter „echter Nachzügler“ vertrauen, sondern muss sich vergewissern, dass eine Kollision mit dem Querverkehr, der (erst) nach mehreren Sekunden Grünlicht für seine Fahrtrichtung in die Kreuzung einfährt, ausgeschlossen ist. Das hat der 7. Zivilsenat des OLG Hamm am 26. 8. 2016 entschieden und damit das erstinstanzliche Urteil des LG Essen abgeändert.

Tatbestand:

Die Bekl. befuhr mit einem Pkw des Typs Kia Ceed von Westen kommend die G.-Straße in E. In den Kreuzungsbereich G.-Straße/L.-Straße fuhr sie bei Grünlicht ein und kam dann aufgrund eines Rückstaus des Linksabbiegerverkehrs hinter der Fluchtlinie zum Stehen. Nachdem sie mindestens 40 s gestanden hatte – die von ihr zuvor passierte Ampel zeigte bereits mehr als 20 s Rotlicht –, entschloss sie sich dazu, die Kreuzung zu räumen. Im Kreuzungsbereich stieß sie mit dem vom Ehemann der Kl. gefahrenen Pkw des Typs Opel Astra zusammen, der die L.-Straße von Norden kommend in Richtung Innenstadt befuhr. Er folgte einem Fahrzeug, das die Bekl. passieren ließ, und hatte bei seiner Einfahrt in den Kreuzungsbereich mindestens 19 s Grünlicht.

Den ihr durch den Unfall entstandenen Sachschaden in Höhe von ca. 13 900 Euro verlangte die Kl. von der Bekl., von dem Halter des Bekl.-Fahrzeugs und von dessen Haftpflichtversicherer ersetzt.

Der Versicherer glich vorprozessual zwei Drittel des Schadens der Kl. aus. Das restliche Drittel in Höhe von ca. 4600 Euro und weitere entstandene Nebenkosten klagte die Kl. ein.

Die Klage war in zweiter Instanz erfolgreich.

Aus den Gründen:

Nach der Aufklärung des Unfallhergangs und der Schadenshöhe hat der 7. Zivilsenat des OLG Hamm der Kl. ca. 4600 Euro für den noch nicht regulierten Fahrzeugschaden sowie ca. 450 Euro für durch den Unfall verursachte weitere Aufwendungen und für einen Nutzungsausfall zugesprochen.

Die Bekl. habe, so der Senat, in erheblicher Weise gegen das im Straßenverkehr geltende Rücksichtnahmegebot (§ 1 Abs. 2 StVO) verstoßen. Sie sei zwar bei Grünlicht in den Kreuzungsbereich eingefahren. Dort sei sie zunächst aufgehalten worden, sodass sie diesen dann grundsätzlich als gegenüber dem Querverkehr bevorrechtigter „Nachzügler“ habe räumen dürfen. Dabei habe sie aber nicht blindlings darauf vertrauen dürfen, vom Querverkehr vorgelassen zu werden. Ein „Nachzügler“ habe den Kreuzungsbereich vielmehr vorsichtig, unter sorgfältiger Beachtung des einsetzenden Gegen- oder Querverkehrs mit Vorrang zu verlassen. Die Anforderungen an seine Aufmerksamkeit erhöhten sich mit seiner Verweildauer im Kreuzungsbereich. Je länger sich ein „Nachzügler“ im Kreuzungsbereich aufhalte, desto eher habe er mit einem Phasenwechsel und anfahrendem Querverkehr zu rechnen. Er müsse dann davon ausgehen, dass der übrige Verkehr aus seinem Verhalten schließen könnte, dass er nicht weiterfahren werde. Deswegen dürfe er nach einer längeren Verweildauer nur dann weiterfahren, wenn er sich vergewissert habe, dass eine Kollision mit dem Gegen- oder Querverkehr ausgeschlossen sei. Diesen Sorgfaltsanforderungen habe die Bekl. nicht genügt. Sie sei vielmehr unerwartet und zügig losgefahren, ohne auf das herannahende Fahrzeug des Fahrzeugs der Kl. zu achten. Mit dieser Fahrweise habe sie den Unfall im erheblichen Umfang verschuldet.

Den Fahrer des Fahrzeugs der Kl. treffe demgegenüber kein Verschulden. Der Bekl. habe er als „Nachzügler“ nicht mehr die Möglichkeit geben müssen, die Kreuzung zu räumen. Nachdem die für ihn geltende Ampel bereits über 19 s Grünlicht gezeigt habe, als er in die Kreuzung einfuhr, und vor ihm bereits weitere Fahrzeuge in seiner Richtung sowie aus seiner Gegenrichtung kommend den Kreuzungsbereich passiert hatten, habe er auf seine freie Durchfahrt vertrauen und nicht mehr mit Nachzüglern aus dem Querverkehr rechnen müssen.

OLG Hamm, Urteil vom 26. 8. 2016 (7 U 22/16)

(Pressemitteilung des OLG Hamm vom 14. 10. 2016)

OLG Hamm: Ampel von Grün auf Gelb – Anhalten vor der Ampel ist Pflicht

Ein Kfz-Fahrer verstößt gegen das Gebot, beim Wechsel einer Ampel von Grün auf Gelb anzuhalten, wenn er mit seinem Fahrzeug in den Kreuzungsbereich einfährt, obwohl er mit einer normalen Betriebsbremsung zwar jenseits der Haltelinie, aber noch vor der Ampelanlage hätte anhalten können. Das hat der 6. Zivilsenat des OLG Hamm am 30. 5. 2016 entschieden und damit das erstinstanzliche Urteil des LG Dortmund bestätigt.

Tatbestand

Der heute 65 Jahre alte Kl. befuhr mit seinem Motorroller im September 2012 morgens die Radbodstraße in Hamm in nördlicher Richtung und beabsichtigte die Kreuzung zur Dortmunder Straße geradeaus zu überqueren. In den Kreuzungsbereich fuhr er ein, als die für ihn geltende Ampel von Rot/Gelb auf Grün umsprang. Aus der Gegenrichtung näherte sich der Bekl. mit seinem Sattelzug auf der Linksabbiegespur der Radbodstraße. Der Bekl. beabsichtigte, nach links in die Dortmunder Straße einzubiegen und fuhr in den Kreuzungsbereich ein, – dies ergab die im gerichtlichen Verfahren durchgeführte Beweisaufnahme – nachdem die für ihn geltende Ampel von Grün auf Gelb umgesprungen war. Der Kl. leitete eine Vollbremsung ein, geriet mit seinem Motorroller in eine Schräglage und kollidierte mit dem Unterfahrschutz des Sattelaufliegers. Er zog sich diverse, zum Teil schwere Verletzungen – einschließlich des Verlustes der Milz – zu. Die ihm entstandenen Schäden, materielle Schäden in Höhe von ca. 13 500 Euro sowie ein Schmerzensgeld in der Größenordnung von 40 000 Euro, verlangte der Kl. im Prozess vom Bekl. und der mitverklagten Haftpflichtversicherung ersetzt.
Nach durchgeführter Beweisaufnahme zum Unfallhergang hat das LG der Klage dem Grunde nach mit einer Haftungsquote von 70 % zugunsten des Kl. stattgegeben und ein mit 30 % zu bewertendes klägerisches Mitverschulden angenommen.
Die Berufung der Bekl. gegen das landgerichtliche Urteil war erfolglos geblieben. Der 6. Zivilsenat des OLG Hamm hat das landgerichtliche Urteil bestätigt.

Aus den Gründen:

Der Bekl. habe den Unfall überwiegend verschuldet, so der Senat. Ihm sei ein Gelblichtverstoß vorzuwerfen. Das Gelblicht einer Ampel ordne an, das nächste Farbsignal der Ampelanlage abzuwarten. Sei das nächste Farbsignal – wie im vorliegenden Fall – ʺrotʺ, habe der Fahrer anzuhalten, soweit ihm dies mit normaler Betriebsbremsung vor der Ampelanlage möglich sei. Andernfalls dürfe er weiterfahren, müsse aber den Kreuzungsbereich hinter der Lichtzeichenanlage möglichst zügig überqueren.
Im vorliegenden Fall habe der Beklagte anhalten müssen und die für ihn geltende Ampelanlage nicht mehr passieren dürfen. Er habe den Sattelzug vor Beginn der Rotlichtphase mit einer normalen Betriebsbremsung vor der Ampelanlage anhalten können. Das stehe nach dem im Prozess eingeholten Sachverständigengutachten fest.
Ob der Bekl. noch vor der Haltelinie seiner Ampelanlage habe zum Stehen kommen können, sei nicht entscheidend. Wer die Haltelinie überquere, ohne einen Verkehrsverstoß zu begehen, dürfe dann nicht in jedem Fall an der Gelb- oder Rotlicht zeigenden Ampelanlage vorbeifahren. Er müsse vielmehr anhalten, wenn er mit normaler Betriebsbremsung noch vor der Ampelanlage zum Stehen kommen könne. Andernfalls gefährde er den Querverkehr in einer nicht hinnehmbaren Weise. Dies gelte besonders, wenn er, was auf den Bekl. zutreffe, ein großes und schwerfälliges Fahrzeug lenke, mit dem er bei Gelblicht nur langsam in den Kreuzungsbereich einfahren könne.
Abgesehen von dem Gelblichtverstoß sei dem Bekl. vorzuwerfen, dass er den Sattelzug nicht angehalten und seinen Abbiegevorgang abgebrochen habe, als der Kläger in den Kreuzungsbereich eingefahren sei. Er habe sich nicht darauf verlassen dürfen, dass der Kl. ihm, dem Bekl., als „Kreuzungsräumerʺ den Vorrang belasse.
Im Verhältnis zum Bekl. stelle sich das unfallursächliche Verschulden des Klägers als weniger gewichtig dar. Ihm sei vorzuhalten, dass er in den Kreuzungsbereich eingefahren sei, ohne auf den sich im Kreuzungsbereich bewegenden Sattelzug des Bekl. zu achten. Er habe sich nicht so verhalten, wie es von einem Verkehrsteilnehmer erwartet werden müsse, der eine Gefährdung Anderer möglichst auszuschließen habe.
Die Verursachungsbeiträge des Klägers und des Bekl. am Unfall habe das LG unter Berücksichtigung der Betriebsgefahr beider Fahrzeuge zutreffend abgewogen, die festgestellte Haftungsquote von 70 % zulasten des Beklagten sei nicht zu beanstanden.
OLG Hamm, Urteil vom 30. 5. 2016 (6 U 13/16)

Pressemitteilung des OLG Hamm vom 30. 8. 2016