Das BGH-Urteil zum Deckungsumfang der D&O-Versicherung – ein Lehrstück für rechtssichere Wordings

Das BGH-Urteil vom 18.11.2020 (VersR 2021, 113) zur Leistungspflicht des D&O-Versicherers für Ansprüche aus § 64 S. 1 GmbHG a.F. verdient aus mehreren Gründen über die D&O-Versicherung hinaus Beachtung. Anders als bei den bisherigen Urteilen des Versicherungssenats zu dieser Sparte (s. etwa VersR 2012, 1506; 2016, 786; 2017, 683, 2020, 541) stehen diesmal die Regeln der AVB-Auslegung ganz im Mittelpunkt. Der Senat bejaht die Einbeziehung von Ansprüchen des Insolvenzverwalters über das Vermögen des VN gegen versicherte Personen nach § 64 S. 1 GmbHG a.F. (jetzt § 15b InsO) in den Deckungsumfang der D&O-Versicherung.

Das Urteil kommt für viele D&O-Versicherer zur Unzeit. Der Markt steht unter Druck. Dies gilt nicht erst, seit der Gesetzgeber durch die rasch aufeinanderfolgenden Covid-19-bedingten Regelungen zur Einschränkung der Insolvenzantragspflicht unter wechselnden Voraussetzungen für Geschäftsleiter neue insolvenzrechtliche Haftungsrisiken geschaffen hat. Insbesondere GmbH-Geschäftsführern wird es nicht immer gelingen, den Vorwurf der Pflichtwidrigkeit zu entkräften. Außer einer Inanspruchnahme wegen Insolvenzverschleppung droht Geschäftsleitern insbesondere, dass nach Insolvenzreife vorgenommene Auszahlungen gem. § 15b Abs. 4 S. 1 InsO (bis 31.12.2020: §§ 64 S. 1 GmbHG a.F., 93 Abs. 3 Nr. 6, 92 Abs. 2 AktG a.F. und § 130a Abs. 2 S. 1 HGB a.F.) zurückzuzahlen sind. Um einen solchen Anspruch, den der Insolvenzverwalter über das Vermögen einer GmbH gegen deren Geschäftsführer geltend machte, dreht sich der aktuelle Fall.

Das vom BGH gefundene Auslegungsergebnis, wonach Deckungsschutz zu gewähren ist, vermag angesichts der ständigen Rechtsprechung zur AVB-Auslegung nicht zu überraschen. Indessen zeigt allein schon der Umstand, dass mehrere OLG zuvor die gegenteilige Auslegung vertreten haben, dass die entscheidende Botschaft noch immer nicht Gemeingut ist: Dem VN muss in den AVB nicht nur hinreichend klar vermittelt werden, welche Risiken versichert sind, sondern auch, wo der Versicherungsschutz endet. Fragt man bei Klauselverfassern nach, wieso sie die Grenzen der versprochenen Deckung nicht in den AVB benennen, so ist bisweilen zu hören, das Produkt müsse sich schließlich auch verkaufen, und Negativkataloge schreckten ab. Diese Haltung mag aus Sicht von Marketing und Vertrieb nachvollziehbar sein; für das zum erfolgreichen Betrieb des Versicherungsgeschäfts grundlegend wichtige Vertrauen der VN ist sie fatal. Jedem verständigen VN ist klar, dass der für eine bestimmte Prämie erlangte Versicherungsschutz nicht grenzenlos sein kann; nicht einmal die sog. All-Risks-Deckungen vermögen dies zu leisten. Schlägt dem VN aber bei Schadensfällen, für die er sich in nachvollziehbarer Weise versichert wähnt, eine Leistungsablehnung entgegen, geht Vertrauen verloren. Dieser Effekt ist derzeit in nicht zu unterschätzendem Ausmaß bei Gastronomen und Hoteliers im Hinblick auf die Betriebsschließungsversicherung zu beobachten – eine Situation, an der ganz unabhängig vom Ausgang der Gerichtsverfahren weder den beteiligten Versicherern noch den Vermittlern gelegen sein kann, von Rechtsschutzversicherern ganz zu schweigen.

Was lässt sich hierzu aus der aktuellen Entscheidung zur D&O-Versicherung lernen? Der falsche Weg wäre es, das Urteil zu marginalisieren. Genau dies geschieht aber in einigen Stellungnahmen: Manche verweisen darauf, dass in den zugrunde liegenden AVB der Insolvenzverwalter ausdrücklich als möglicher Anspruchsteller genannt wird – dies ist in der Tat ungewöhnlich, spielte aber für das vom BGH gefundene Auslegungsergebnis keine entscheidende Rolle. Andere meinen, das Urteil sei seit dem Inkrafttreten von § 15b Abs. 4 S. 2 InsO „Rechtsgeschichte“, da es sich jetzt eindeutig um einen Schadensersatzanspruch handele. Auch diese Einschätzung geht an der Bedeutung der Entscheidung vorbei, da die Gegenansicht darauf abhob, der Anspruch solle nicht einen Schaden der Gesellschaft ausgleichen, und sich daran durch die Neufassung der Regelung nichts geändert hat.

Man sollte das Urteil also nicht kleinreden, sondern daraus klare Konsequenzen für die künftige AVB-Gestaltung ziehen: Für den Verwender gilt es konsequenter als bislang Grauzonen, in denen über die Reichweite des Deckungsschutzes gestritten werden kann, in den AVB auszuleuchten, statt darauf zu hoffen, dass später Gerichte die fraglichen Klauseln genau in dem gewollten Sinne auslegen werden. Dagegen sollte nicht vorschnell eingewandt werden, mögliche künftige Streitpunkte ließen sich beim besten Willen nicht voraussehen. Dieser Einwand greift etwa bei der Auslegungsfrage, die der BGH in dem aktuellen Fall zu beantworten hatte, definitiv nicht. Das zeigt sich bereits daran, dass einige Anbieter für insolvenzrechtliche Rückzahlungsansprüche eine Zusatzdeckung angeboten haben. Dieser Umstand hat bei der Auslegung der Grunddeckung unberücksichtigt zu bleiben, da AVB aus sich heraus auszulegen sind. Die Möglichkeit einer solchen Zusatzdeckung bietet aber Anlass, das betreffende Risiko bei der Grunddeckung in einen Negativkatalog aufzunehmen. Auch der zur Betriebsschließungsversicherung vorgebrachte Einwand, eine Pandemie solchen Ausmaßes und die damit verbundenen flächendeckenden Betriebsschließungen seien unvorhersehbar gewesen, zieht nicht, wie vorausblickende AVB-Gestaltungen einiger Versicherer belegen.

Einige jüngere Musterbedingungen des GDV setzen das genannte Petitum bereits in überzeugender Weise um. So wird etwa in der Gebäudeversicherung unter der prägnanten Überschrift „Nicht versicherte Schäden“ aufgelistet, was nicht als Leitungswasserschaden gedeckt ist (A 4.5 VGB 2016 Privat/1914). Entsprechende Gestaltungen finden sich in anderen verbraucherrelevanten Sparten, aber etwa auch in der Technischen Versicherung (Beispiel: AMB 2020 A1-1.3). Letzteres wird dem Umstand gerecht, dass der BGH ausdrücklich auch geschäftserfahrenen VN bei der AVB-Auslegung keine komplexen Überlegungen abverlangt. Zusätzliche Orientierung können klar formulierte Präambeln bieten (Beispiel: BSV 2021). Bisweilen ist demgegenüber insbesondere in der Industrieversicherung zu vernehmen, dass bestimmte Punkte ganz bewusst ungeregelt bleiben, um im Streitfall Verhandlungsspielräume zu haben. Das aktuelle Urteil des BGH schärft den Blick dafür, dass sich diese Strategie jedenfalls im Prozess für den Verwender der AVB als riskant erweisen kann.