Jetzt doch: Sammelklagen EU-Style

Verbraucherschutz im Kollektiv

Spätestens Anfang 2021 soll die Richtlinie über „Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher“ in Kraft treten. Die Vorgeschichte dieser Sammelklagen „à la EU“ ist lang. Seit mindestens 15 Jahren wird diskutiert, ob die EU-weite Einführung von kollektivem Rechtsschutz wünschenswert oder gar zum Verbraucherschutz erforderlich ist (vgl. hierzu schon das Grünbuch von 2005 und das Weißbuch von 2008, KOM[2005] 672 bzw. KOM[2008] 165). Umstritten war dabei nie das Ziel, in allen Mitgliedsstaaten einen möglichst gleichen Level von Verbraucherschutz und effektive Methoden zur Durchsetzung der von der EU gewährten Verbraucherrechte einzuführen. Dieser Aspekt gewann im Lauf der Jahre durch die wachsende Bedeutung von grenzüberschreitenden Verbraucherverträgen, nicht zuletzt aufgrund verstärkter Internetnutzung, eher noch an Bedeutung. Vielmehr schreckte das Beispiel der Massenklagen in den USA. Missstände, wie es sie dort gibt, wollte und will verständlicherweise niemand. Um dies deutlich zu machen, wählte man schon früh die bis dahin eher ungewöhnliche Bezeichnung „Collective Redress“, statt in Anlehnung an die USA „Class Actions“. Für weitere Komplikationen sorgten neben den üblichen nationalen Befindlichkeiten und gegensätzlichen Interessen der verschiedenen Betroffenen aber auch rechtliche Hürden: Europas Rechtsordnungen sind auf individuellen Rechtsschutz ausgelegt, nicht auf Massenklagen. Jede Form von kollektivem Rechtsschutz setzt daher umfassende Änderungen der nationalen Prozessrechte voraus, vor allem im Hinblick auf Klagebefugnis, Prozessfinanzierung, Gerichtskostenverteilung und die Bindungswirkung von Urteilen. Aber auch verfassungsrechtliche Bedenken, insbesondere im Hinblick auf die Gewährung rechtlichen Gehörs für alle Beteiligten, mussten ausgeräumt werden.

Dieses Dilemma führte dazu, dass die EU sich zunächst auf die unverbindliche Empfehlung an die Mitgliedstaaten beschränkte, nationale Mechanismen zum kollektiven Rechtsschutz einzuführen (Empfehlung der Kommission vom 11.6.2013, 2013/396/EU). Begleitet wurde diese Empfehlung von „Grundsätze[n] für kollektive Unterlassungs- und Schadensersatzverfahren in den Mitgliedstaaten bei Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten“. Ziel war es sicherzustellen, dass von Massenschäden betroffene Verbraucher effektiv Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche durchsetzen können. Derartige Verfahren sollten „fair, gerecht, zügig und nicht übermäßig teuer“ sein, eine missbräuchliche Rechtsverfolgung verhindern und gleichermaßen für unionsweit einheitlichen Rechtsschutz sorgen wie auch nationale Rechtstraditionen berücksichtigen.

Es überrascht kaum, dass diese Quadratur des Kreises den Mitgliedstaaten in den folgenden Jahren nicht gelang. Die EU-Empfehlungen wurden, wenn überhaupt, sehr unterschiedlich umgesetzt. Einige Staaten führten umfassende Sammelklagen für Verbraucher ein, wie zum Beispiel Italien 2010 und Frankreich ab 2014. Andere beschränkten deren Anwendungsbereich oder beließen es bei den bestehenden Rechtsbehelfen. Deutschland entschied sich bekanntlich für Musterverfahren (KapMuG 2005, Musterfeststellungsverfahren 2018), bei denen die Verbraucher ihre Entschädigungsansprüche im Nachgang individuell geltend machen müssen (zu den Mängeln dieser Musterverfahren: Langheid, VersR 2020, 789). So unterschiedlich die nationalen Mechanismen zum kollektiven Rechtsschutz in der EU heute sind, allen gemeinsam ist ihre geringe praktische Bedeutung, die weit hinter den Erwartungen bzw. Befürchtungen bei ihrer Einführung zurück blieb. Damit war aus Sicht der EU ein unionsweit einheitlicher Verbraucherschutz nicht gewährleistet. 2018 wurde daher im Rahmen umfassender Verbraucherschutzbestrebungen (dem „New Deal for Consumers“) die Idee einer EU-Richtlinie zum kollektiven Rechtsschutz wieder aufgenommen.

Was genau kommt also auf uns zu? Zunächst einmal, so schnell gar nichts. Die Mitgliedstaaten haben wie üblich 24 Monate Zeit, die Richtlinie in ihr jeweiliges nationales Recht umzusetzen. Weitere sechs Monate sind vorgesehen, bis die neuen Verfahrensarten dann auch tatsächlich zur Verfügung stehen müssen. Bis weit ins Jahr 2023 hinein dürfte also alles bleiben wie gehabt. Und dann? Neu ist aus deutscher Sicht vor allem, dass die allein zur Klageerhebung befugten qualifizierten Verbraucherschutzorganisationen nicht nur auf die Beendigung rechtswidriger Praktiken oder die Feststellung der Verletzung von Verbraucherschutzrechten klagen können. Vielmehr besteht auch die Option, direkt Abhilfe zu verlangen, etwa durch die Zahlung einer Entschädigung, Reparatur oder Kaufpreiserstattung. Darüber hinaus sind ausdrücklich auch grenzüberschreitende Verbandsklagen möglich. Zur Vermeidung missbräuchlicher Klagen müssen die Mitgliedstaaten für alle Stadien des Verfahrens umfassende Kontrollrechte der Gerichte und Behörden vorsehen. Erfolgshonorare und Strafschadensersatz sind verboten. Auch das in Europa im Gegensatz zu den USA übliche „loser-pays“-Prinzip, also die Pflicht der unterliegenden Partei, die Verfahrenskosten der Gegenseite zu tragen, muss beibehalten werden. Die Finanzierung der Prozesse durch Dritte ist zulässig, unterliegt allerdings verschiedenen Beschränkungen (Transparenzgebot, keine Finanzierung von Prozessen gegen Wettbewerber des Finanzgebers).

Von US-Class Actions unterscheiden sich die neuen EU-Rechtsbehelfe also erheblich. Es bleibt die Frage, braucht man sowas? Und wenn ja, wozu? Als möglichen Anwendungsbereich nennt die Pressemitteilung des Rats der EU (426/20 vom 30.6.2020) „Finanzdienstleistungen, Reisen und Tourismus, Energie, Gesundheit, Telekommunikation und Datenschutz“. Wobei ja immer eine Verletzung von EU-Verbraucherschutznormen und bei einer auf Entschädigung gerichteten Klage eine sehr ähnliche Schädigung vieler Verbraucher vorliegen muss. Zu denken wäre also am ehesten an Klagen wegen unzulässiger/überhöhter Gebühren und Prämien, der Stornierung/Verspätung von Flügen und Bahnfahrten oder die Entschädigung (vor allem immaterieller) Schäden durch Datenschutzverletzungen. Schon bei Ansprüchen wegen Produktfehlern, die über die Erstattung des Kaufpreises hinaus gehen, dürften die Schäden und Begleitumstände meist zu individuell verschieden sein, um sinnvoll im Wege einer Verbandsklage geltend gemacht zu werden. Erst recht ist nicht vorstellbar, wie Personenschäden durch Sammelklagen entschädigt werden sollen. Selbst in den USA ist es wegen der dabei regelmäßig bestehenden Unterschiedlichkeit der Schäden kaum je gelungen, Class Actions hierfür zu nutzen.

Es bleibt abzuwarten, wie die Mitgliedstaaten die Richtlinie ins nationale Recht überführen werden. In einigen Staaten besteht wenig Handlungsbedarf. In Deutschland muss der Gesetzgeber hingegen tätig werden und erstmals auch einen auf die Entschädigung der Verbraucher gerichteten kollektiven Rechtsschutz einführen, neben oder statt der bestehenden Musterverfahren. Sollte es innerhalb der EU zu einer sehr unterschiedlichen Ausgestaltung des kollektiven Rechtsschutzes kommen, stellt sich zudem die Frage, ob sich deshalb ein innereuropäisches „forum shopping“ entwickelt und wenn ja, wie sich dies auf die Zahl der Klagen oder die Höhe der Entschädigungen auswirken wird. Schließlich ist noch unklar, wie oft diese neuen Prozessformen letztlich überhaupt genutzt werden – und wofür. Hoffen lässt immerhin der bislang EU-weit zurückhaltende Umgang der Gerichte mit den bereits existierenden Mechanismen für einen kollektiven Rechtsschutz.