Das Geschäftsmodell der Lebensversicherung im Umbruch
Das nunmehr seit Jahren anhaltende Niedrigzinsniveau bedeutet für den Versicherungssektor im Allgemeinen eine extreme Belastung und stellt die Lebensversicherungsunternehmen im Besonderen aufgrund ihrer langfristig laufenden Verträge und der darin enthaltenen Zinsgarantien vor die immense Herausforderung, in Zeiten niedrigster, wenn nicht sogar negativer Zinsen, ausreichend Kapital zu erwirtschaften, um ihre garantierten Leistungsversprechen gegenüber den Versicherten dauerhaft erfüllen zu können. Das wird bei unveränderter Zinsentwicklung zunehmend immer schwieriger.
Da die Zeichen indes alles andere als auf ein mittelfristig absehbares Ende des Niedrigzinsumfelds stehen, müssen insbesondere die Lebensversicherer handeln. Allen voran haben zunächst zwei Größen der Branche neue Produkte entwickelt, in denen die bislang standardmäßige 100-%-Brutto-Beitragsgarantie nicht mehr fester Bestandteil ist (zuvor sind bereits im Bereich der betrieblichen Altersversorgung bei beitragsorientierten Leistungszusagen im Durchführungsweg der Direktversicherung zunehmend Produkte mit einem endfälligen Garantiekapital i.H.v. 50 bis 80 % der eingezahlten Brutto-Beiträge angeboten worden (das war bei Einführung durchaus umstritten und ist erst heute in der Literatur überwiegend akzeptiert – s. dazu z.B.: Ulbrich in Ulbrich, Praxishandbuch betriebliche Altersversorgung und Zeitwertkonten, 2021, Kap. 1 Rz. 490 ff. sowie Britz in Ulbrich, a.a.O., Kap. 6 Rz. 189; jeweils m.w.N.). Dieser Weg wird für alle Lebensversicherer bei der zu erwartenden Absenkung des Höchstrechnungszinses von 0,9 % auf 0,25 % unausweichlich und ist mit der Einführung der sog. Nahles-Rente in Form der reinen Beitragszusage insbesondere in den §§ 244a ff. VAG (auch wenn es nach wie vor keinen Anwendungsfall gibt) in der betrieblichen Altersversorgung auch bereits eröffnet (s. dazu: Ulbrich, a.a.O., Kap. 1 Rz. 523 ff. sowie Grote, in Ulbrich, a.a.O., Kap. 6 Rz. 128 ff.; jeweils m.w.N.).
Auch wenn aber derzeit nicht alle Unternehmen diesen Weg beschreiten wollen, so offenbaren doch auch andere Produktneuheiten, dass sich die Prioritäten der Versicherten zunehmend verschieben. Überzeugten den Kunden von Lebensversicherern früher primär Produktkennzeichen wie Sicherheit und eine umfassende Beitragsgarantie, stehen bei den Verbrauchern heute zunehmend (auch) ESG (Environment, Social, Governance)-Aspekte und hier insbesondere Kriterien der Nachhaltigkeit der Kapitalanlage im Fokus. Für die solcherart im Wandel begriffenen Bedürfnisse und Wünsche der Kunden stellt sich der Markt konsequenterweise mit einem Angebot an neuen Lebensversicherungsprodukten auf. So wird auch die Kapitalbeteiligung von natürlichen Personen z.B. an Offshore-Windparks oder großen Solaranlagen mittelbar leichter möglich.
Soweit die Zukunft. Wie aber kann der aktuellen faktischen Situation, d.h. namentlich der wachsenden Schwierigkeit der Erwirtschaftung auskömmlicher Renditen in den Bestandsverträgen begegnet werden? Wie können die Lebensversicherer das Kollektiv der Versicherten schützen und verhindern, selbst in finanzielle Schieflage geraten?
Der Gesetzgeber hat grundsätzlich jedenfalls das Problem erkannt, dass unvorhersehbar veränderte Verhältnisse eintreten können, die es den Lebensversicherern, die sich nicht durch ordentliche Kündigung vom Vertrag lösen können (s. § 166 VVG), unmöglich machen können, ihre Leistungspflichten dauerhaft zu erfüllen. Für genau den Fall, dass „sich der Leistungsbedarf nicht nur vorübergehend und nicht voraussehbar gegenüber den Rechnungsgrundlagen der vereinbarten Prämie geändert hat“, ordnet § 163 Abs. 1 S. 1 VVG ein einseitiges Gestaltungsrecht an, die Prämien entsprechend anpassen zu können. Es ist dies ein Spezialfall des Wegfalls der Geschäftsgrundlage. Das Gestaltungsrecht hat allerdings Grenzen: Der Wortlaut der Vorschrift berechtigt allein zur Erhöhung der Prämie. Eine einseitige Herabsetzung der Versicherungsleistung durch den Versicherer hingegen ist nur bei beitragsfrei gestellten Verträgen, § 163 Abs. 2 S. 2 VVG, und im Übrigen nur bei Verlangen des Versicherungsnehmers, § 163 Abs. 2 S. 1 VVG, zulässig.
Gestritten wird in der Literatur darum, ob dieses Gestaltungsrecht auch bei dem derzeit andauernden, unvorhersehbaren Niedrigzinsniveaus anwendbar ist (s. dazu: Wandt in Langheid/Wandt, MünchKomm zum VVG, Bd. 2, 2. Aufl., 2017, § 163 Rz. 30 m.w.N.). Wird davon ausgegangen, dass eine Anpassung des Garantiezinses de lege lata ausscheidet, stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber nicht de lege ferenda jetzt handeln muss. Denn dieses Änderungsrisiko am Kapitalmarkt kann nicht vom Versicherer zu tragen sein und eine solche Regelung ist zumindest mit der Zielrichtung von § 163 VVG in Einklang zu bringen. Schließlich erfasst § 163 VVG – anders als die Vorgängervorschrift – auch die kapitalbildende Lebensversicherung und es ist Sinn und Zweck der Regelung, den Mehraufwand zu erfassen, der daraus resultiert, dass der Versicherer einen Teil seines Leistungsversprechens dauerhaft, unvorhersehbar und wider die Kalkulation unvorhersehbar nicht über Kapitalerträge erwirtschaften kann. Das gilt dem Grunde nach sowohl für biometrische als auch für kapitalmarktabhängige Risiken. Nicht zuletzt sei angeführt, dass im Bereich der substitutiven Krankenversicherung, die sich mit dem Zinsproblem in ähnlicher Weise auseinandersetzen muss, im Rahmen der Prämienanpassung nach § 203 Abs. 2 VVG die Berücksichtigung eines dauerhaft niedrigen Zinsniveaus über das sog. AUZ-Verfahren (AUZ = aktuarieller Unternehmenszins) anerkannt ist. Folglich ist ein Handeln des Gesetzgebers notwendig.
Das zeigt sich auch an anderer Stelle: Denn die staatlich geförderten Altersvorsorgeprodukte (wie z.B. die Riester-Produkte mit der erforderlichen 100-%-Bruttobeitragsgarantie) sind faktisch vom Aussterben bedroht, wenn der Gesetzgeber jetzt nicht handelt. Das scheint allerdings in der laufenden Legislaturperiode zunehmend unwahrscheinlicher.
Kurzum: Der Lebensversicherungsbranche wäre ebenso wie den Lebensversicherten geholfen, wenn der Gesetzgeber eine neue Regelung in einem § 163 a VVG schafft, die wie folgt lauten könnte:
„Der Versicherer ist zu einer Neufestsetzung der vereinbarten Versicherungsleistung berechtigt, wenn
- er aus der vereinbarten Prämien Kapitalerträge in Höhe des einkalkulierten Rechnungszinses nicht nur vorübergehend und nicht voraussehbar nicht mehr erwirtschaften kann,
- die nach dem berichtigten Rechnungszins neu festgesetzte Versicherungsleistung angemessen und erforderlich ist, um die dauernde Erfüllbarkeit der Versicherungsleistung zu gewährleisten, und
- ein unabhängiger Treuhänder die geänderten Rechnungsgrundlagen und die Voraussetzungen der Nummern 1 und 2 überprüft und bestätigt hat.
Im Übrigen gilt § 163 entsprechend.“
Alternativ wäre auch an eine jährliche Neufestsetzung des Garantiezinses für zukünftige Prämien zu denken. Dann wären 100-%-Bruttobeitragsgarantien vermutlich weiter dem Grunde nach auch heute noch möglich. Die Zivilgerichte werden für etwaige Leistungskürzungen voraussichtlich auch Verständnis aufbringen und ihre Rechtmäßigkeit bestätigen. Das zeigen jedenfalls entsprechende Entscheidungen, die z.B. im Zusammenhang mit Leistungskürzungen von regulierten Pensionskassen in jüngerer Zeit ergangen sind (s. z.B. OLG Hamburg v. 2.5.2019 – 9 U 67/19).