„Ewiges“ Rücktrittsrecht nach fehlerhafter Rücktrittsbelehrung
Wird ein Versicherungsnehmer vom Versicherer über sein gem. § 165a VersVG a.F. bestehendes Rücktrittsrecht nicht oder fehlerhaft belehrt, so kann dies dazu führen, dass ein Versicherungsnehmer auch noch Jahre nach Vertragsabschluss von seinem Lebensversicherungsvertrag zurücktreten kann („ewiges“ Rücktrittsrecht). Dazu erging am 19.12.2019 die Entscheidung des EuGH C‑355/18, C‑356/18, C‑357/18, C-479/18 Rust-Hackner u.a. (VersR 2020, 341). In der Folge setzte der OGH die zunächst unterbrochenen Verfahren fort. Bis Ende April 2020 ergingen nicht weniger als elf Entscheidungen des OGH, in denen die EuGH-Entscheidungen umgesetzt werden (abrufbar unter www.ris.bka.gv.at).
In der ersten Welle von Entscheidungen (7 Ob 16/20h, 7 Ob 4/20v, 7 Ob 3/20x) widmet sich der OGH der Schriftform. Er führt unter Bezugnahme auf Vorlagefrage 1 von Rust-Hackner aus, dass der Versicherungsnehmer seinen Rücktritt in jeder erdenklichen Form erklären könne und ein durch den Versicherer aufgestelltes (Schrift-)Formgebot für den Rücktritt unwirksam sei. Selbst wenn ein solches unwirksames Schriftformgebot aufgestellt wurde, so führe eine insofern fehlerhafte Rücktrittsbelehrung aber zu keinem ewigen Rücktrittsrecht, weil ein solches Schriftformgebot die Ausübbarkeit des Rücktrittsrechts nicht in relevanter Weise erschwere, weswegen eine bloß insofern fehlerhafte Rücktrittsbelehrung den Lauf der Rücktrittsfrist auslöse. Ausgehend von der Beantwortung der Vorlagefrage 3 wurde in 7 Ob 4/20v darüber hinaus festgehalten, dass der Umstand, dass die Laufzeit des Versicherungsvertrags längst abgelaufen und die Beklagte dem Kläger auch schon den Ablaufwert ausbezahlt hat, der Ausübung des Rücktrittsrechts grundsätzlich nicht entgegenstehe. Daneben hielt der OGH in 7 Ob 16/20h – wenig überraschend – fest, dass eine Verlängerung der gesetzlichen Rücktrittsfrist durch den Versicherer von 30 auf 31 Tage die Rücktrittsmöglichkeit nicht einschränke, sondern sogar zugunsten des Versicherungsnehmers erweitere, weswegen eine solche Abweichung von den gesetzlichen Vorgaben nicht zu einem ewigen Rücktrittsrecht führe.
Ein zweiter Schwung von Entscheidungen (7 Ob 27/20a; 7 Ob 17/20f; 7 Ob 12/20w; 7 Ob 9/20d; 7 Ob 6/20p) beschäftigt sich erneut mit der Schriftform und korrigiert dabei der zuvor ergangenen höchstgerichtlichen Rechtsprechung widersprechende unterinstanzliche Entscheidungen bzw. verneinte nunmehr im Hinblick auf die bereits ergangene Rechtsprechung das Vorliegen erheblicher Rechtsfragen (so in 7 Ob 27/20a; 7 Ob 12/20w; 7 Ob 9/20d). Daneben entscheidet der OGH unter Bezugnahme auf Vorlagefrage 4 von Rust-Hackner in 7 Ob 19/20z, dass die Rückabwicklung nach Ausübung des Rücktrittsrechts bereicherungsrechtlich zu erfolgen habe und die Beschränkung der Rückabwicklung auf den bloßen Rückkaufswert gem. § 176 VersVG ausgeschlossen sei. Darüber hinaus wird in dieser Entscheidung auch die Vorlagefrage 2 von Rust-Hackner (Versicherungsnehmer erlangt über andere Wege Kenntnis vom Rücktrittsrecht) kurz erwähnt und ausgeführt, dass das Rücktrittsrecht nicht binnen drei Jahren ab Vertragsabschluss in analoger Anwendung des § 1487 ABGB verjähre. In 7 Ob 6/20p wird darüber hinaus noch festgehalten, dass auch eine inhaltlich insofern unrichtig erteilte Belehrung über das Rücktrittsrecht nach § 165a Abs 1 VersVG (i.d.F. VersRÄG 2006), bei der auf das Zustandekommen des Vertrags und nicht auf die Verständigung vom Zustandekommen des Vertrags als fristauslösendes Ereignis für die Rücktrittsfrist Bezug genommen wird, unschädlich sei. Diese beiden Ereignisse würden nämlich üblicherweise zusammenfallen (die Zusendung der Polizze an den VN bewirke einerseits das Zustandekommen des Vertrags [wirksame Annahme des Vertragsangebots] und andererseits zugleich die Verständigung des VN darüber), weswegen dieser Fehler bei der Belehrung typischerweise zu keiner Beeinträchtigung des Rücktrittsrechts führe und damit auch kein ewiges Rücktrittsrecht auslöse.
Zuletzt ergingen Ende April 2020 die beiden nahezu gleichlautenden Entscheidungen 7 Ob 11/20y und 7 Ob 10/20a, die sich der Rückabwicklung widmen. Zunächst wird wiederholt, dass der Versicherungsvertrag nach bereicherungsrechtlichen Grundsätzen rückabzuwickeln sei. Besonders interessant sind jedoch die Ausführungen zu den sog. Vergütungszinsen, bei welchen sich der OGH auf die Beantwortung der Vorlagefrage 5 durch den EuGH in Rust-Hackner bezieht. Vergütungszinsen sind die Zinsen, mit denen der Versicherer dem Versicherungsnehmer die Kapitalnutzung an den zurückzuzahlenden Versicherungsprämien zu vergüten hat. Die Zinsen für die zurückzuzahlenden Prämien würden nämlich nach Ansicht des OGH nach innerstaatlichem Recht gem. § 1480 ABGB grundsätzlich nach drei Jahren ab dem Zeitpunkt der objektiven Möglichkeit der Rechtsausübung (= der Zahlung der Prämien) verjähren. Mehr als drei Jahre vor der Klagseinbringung rückständige Vergütungszinsen sind damit regelmäßig verjährt. Bloß im Ausnahmefall solle diese kurze Verjährungsfrist für die Vergütungszinsen nicht gelten. Dieser Ausnahmefall sei gegeben, wenn eine solche Verjährung der Zinsen den Versicherungsnehmer im Einzelfall daran hindere, von einem Vertrag zurückzutreten, der im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses nicht seinen Bedürfnissen entsprochen habe. Darüber hinaus hält der OGH in diesen Entscheidungen fest, dass Zinseszinsen i.H.v. von 4% mangels gesonderter Vereinbarung erst ab Klagsbehändigung gebühren würden.
Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. So ist noch ein weiteres Verfahren vor dem EuGH anhängig, in welchem es um das Schicksal der vom Versicherer für den Versicherungsnehmer geleisteten Versicherungssteuer geht – vgl. dazu bspw. den Vorlagebeschluss zu 7 Ob 211/18g.