Behörden und Instanzgerichte greifen gelegentlich daneben
Die gerade 63 Jahre alt gewordene schwerbeschädigte Klägerin strebte in die Rente. Sie erkundigte sich im Januar 2014 bei der Trägerin der gesetzlichen Rentenversicherung nach der Rentenhöhe, die unter Berücksichtigung „fiktiver Mindestentgeltpunkte bei geringem Arbeitsentgelt“ gem. § 262 SGB VI monatlich 922,84 € betragen sollte. Am 30.4.2014 erhielt die Klägerin bei einem persönlichen Beratungstermin vom Rentenversicherungsträger die als unverbindlich bezeichnete Auskunft, bei Rentenbeginn am 1.7.2014 betrage die Rente 934,79 €. Weil die Klägerin noch in den „Genuss des Weihnachtsgeldes“ kommen wollte, beantragte sie am 15.7.2014 die Rente ab 1.12.2014. Im Rentenbescheid wurde die Rente mit 886,96 € festgesetzt. Die geringere Rente beruht darauf, dass die Klägerin durch die für wenige Monate fortgesetzte sozialversicherungspflichtige Tätigkeit einige „Entgeltpunkte“ hinzuerworben hatte, so dass die erarbeiteten Entgeltpunkte gerade die Grenze überschritten, bis zu der ihr die oben genannten „fiktiven Mindestentgeltpunkte bei geringem Arbeitsentgelt“ hätten gewährt werden können. All dies wurde vom Sozialgericht rechtskräftig festgestellt. Die anschließende Klage, mit der die Klägerin vor dem OLG Koblenz (Urt. v. 6.2.2020 – 1 U 1272/19, aufgehoben durch BGH v. 11.3.2021 – III ZR 27/20, VersR 2021, 1043) Amtshaftungsansprüche auf Zahlung der monatlichen Differenz von 45,41 € geltend gemacht hat, wurde in den Vorinstanzen abgewiesen.
Die Entscheidung des OLG Koblenz lässt sich zusammenfassen mit dem Kernsatz: Beratung über eine etwas höhere Rente durch den Rentenversicherungsträger widerspricht dem Gesetz und dem Interesse der Versichertengemeinschaft. Der BGH hält das für falsch und sagt demgegenüber: Das Streben nach höherer Rente durch den Versicherungsnehmer unter Ausnutzung von Gestaltungsmöglichkeiten ist kein Rechtsmissbrauch.
Eine Amtspflichtverletzung sieht die Klägerin darin, dass der Berater beim Rentenversicherungsträger sie nicht darauf hingewiesen habe, dass schon ein „Weiterarbeiten“ von wenigen Monaten dazu führen könne, dass die Privilegierung des § 262 SGB VI wegfalle. Nun sollte man meinen, was denn sonst? Wozu ist ein Rentenberater denn da?
Weit gefehlt, das LG Koblenz und das OLG Koblenz waren übereinstimmend der Meinung, auf den Umstand, dass die zusätzlichen Entgeltpunkte wegfallen könnten, habe der Berater nicht hinweisen müssen. Ihm sei auch nicht zumutbar gewesen, durch verschiedene „Modellrechnungen“ den genauen Zeitpunkt für die Grenze zu ermitteln, wann dies der Fall sein würde. Zudem habe die Klägerin habe die Möglichkeit gehabt, die Bedeutung der Vorschrift des § 262 SGB VI selbst zu erfassen und zu erkennen, dass sie knapp unter dem maßgeblichen Durchschnittswert liege und der Grenze immer näher komme und sie zu überschreiten drohe.
Mit dieser Begründung war es für das OLG Koblenz nicht genug, wohl weil der Senat für Amtshaftung keineswegs sicher sein konnte, dass diese Ausführungen einer Überprüfung standhalten würden. Also besserte der Senat nach und ersann die Rechtsauffassung, dass eine Beratung über die Regelung des § 262 SGB VI dem Willen des Gesetzgebers widersprochen hätte. Erst recht bestehe keine Pflicht des Rentenversicherungsträgers auf die Möglichkeit einer vom Gesetz nicht gewollten Rechtsgestaltung hinzuweisen. Die Norm solle nur besondere Härten ausgleichen aber kein besonderes Gestaltungselement zur Erzielung eines möglichst hohen Rentenbetrags sein. Eine Beratung darüber, früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, um dadurch eine höhere Rente zu erhalten, würde der Rechtsgedanken der Norm zuwiderlaufen und den Interessen der Versichertengemeinschaft widersprechen.
Das OLG Koblenz wird diese Gedanken kaum eigenständig entwickelt haben, sondern sich insoweit in Übereinstimmung mit dem Rentenversicherungsträger befunden haben. Diese Einstellung kann in einem Rechtsstaat nur verwundern, liegt es doch auf der Hand, dass nur eine umfassende und zutreffende Beratung eines Versicherten die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems sein kann (BGH 2.8.2018 – III ZR 466/16, VersR 2019, 28). Eine solche Beratung umfasst auch Gestaltungsmöglichkeiten, die das Gesetz eröffnet und deren Für und Wider der Rentenberater dem Antragsteller umfassend deutlich machen musste.
Dementsprechend hat der 3. Zivilsenat des BGH (VersR 2021, 1043) das OLG Koblenz zurechtgewiesen und zusätzlich herausgestellt, dass der Bürger befähigt werden muss, von bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten sachgerecht Gebrauch zu machen. Ein Rentenberechtigter muss „über den geradezu paradoxen Effekt aufgeklärt werden, dass weiteres Arbeitseinkommen sich rentenschädlich auswirken“ kann. Diesen Effekt hat der durchschnittlich gebildete Versicherte im Gegensatz zum Rentenberater regelmäßig nicht im Blick und kann ihn auch nicht durch bloßes Studium der Rentenauskunft oder der gesetzlichen Bestimmung nicht erkennen.
Wie sehr das OLG irrte, als es auf den Zweck des Gesetzes abstellte, bescheinigt der BGH mit dem einen Satz: „Das Gegenteil ist der Fall“. Gerade weil der Versicherte ohne Hinweis des Beraters nicht sachgerecht entscheiden kann, bezwecken §§ 14 S. 1 und 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I die sachgerechte Beratung des Versicherten. Diese Normen bestimmen, dass jeder einen Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach dem SGB hat und dass die Leistungsträger verpflichtet sind, darauf hinzuweisen, dass jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen erhält. Diese Regeln sind so eindeutig, dass darunter auch die Beratung über Gestaltungsmöglichkeiten fallen.
In konkreten Fall ist die Bitte um sachgerechte Beratung ein Rechtsmissbrauch, auch dann nicht, wenn die sachgerechte Auskunft zu einem Nachteil für die Versichertengemeinschaft führt, weil eine höhere Rente zu zahlen ist. Das ist im Gesetz selbst angelegt, das ist kein Rechtsmissbrauch. Keinem Versicherten ist anzulasten, von dieser Gestaltungsmöglichkeit Gebrauch zu machen.
Nun hatte der 3. Senat des BGH noch das Problem, ein Verschulden des Rentenberaters festzustellen, nachdem zwei Richterkollegien diesem eine korrekte Amtsführung bescheinigt hatten. Zu dieser „Kollegialgerichts-Richtlinie“, die besagt, dass von einem Beamten regelmäßig keine bessere Rechtseinsicht als von einem Kollegialgericht erwartet werden kann, hat der Amtshaftungssenat seit jeher eine Tür geöffnet. Verlangt wird, dass das Kollegialgericht die Rechtmäßigkeit der Amtstätigkeit nach sorgfältiger Prüfung bejaht hat.
Nichts einfacher als das, wenn das Kollegialgericht die im Sozialrecht bestehenden besonderen Beratungspflichten nur unzureichend (eher überhaupt nicht) erfasst und gar der Meinung ist, der Zweck einer Privilegierung stehe der Annahme eines Beratungsfehlers entgegen. Nun folgen Ratschläge des BGH-Senats zur Höhe des Anspruchs der Klägerin. Diese sind einmal gerichtet an den Anwalt der Klägerin, der ermitteln sollte, bis zu welchem Zeitpunkt die Klägerin hätte weiterarbeiten können, ohne die Höhe der Rente zu gefährden. Dabei geht es um die Monate ab August bis maximal November 2014.
Nicht überzeugend ist der Hinweis des 3. Senats des BGH auf das Arbeitseinkommen der Klägerin nach dem 1.7.2014, das im Wege einer Vorteilsausgleichung angerechnet werden könne. Der Senat hat zwar nicht gesagt, dass das Arbeitseinkommen abgerechnet werden muss, aber auch der Hinweis auf die Möglichkeit einer Anrechnung erscheint zweifelhaft. Die Klägerin hat für diese Einkünfte eine Leistung erbracht, sie hat in dieser Zeit voll gearbeitet. Erst recht aber ist zu bedenken, dass in diesen Monaten Sozialversicherungsbeiträge gezahlt wurden und zwar von der Klägerin und von deren Arbeitgeber. Diese Sozialversicherungsbeiträge dürften den gemachten Mehrbetrag der Rente in diesen Monaten sicher überstiegen haben, so dass für eine Vorteilsausgleichung kein Raum bleibt.
Der Klägerin bleibt nur zu wünschen, dass sie in nun 4. Instanz beim OLG Koblenz das bekommt, was ihr zusteht.