Grundrechtsverletzungen in Haftanstalten sollten von Amts wegen vermieden werden, so meint man. Leider lehrt uns die Rechtsprechung bei mindestens zwei Fallgestaltungen ein anderes.
In den Jahren 2003 bis 2008 (vgl. Jaeger/Luckey, Schmerzensgeld, 5. Aufl. 2010, E1280 bis 1303) beschäftigten Strafgefangene die Gerichte mit Entschädigungsansprüchen (Art. 34 GG, § 839 BGB), weil sie amtspflichtwidrig zu mehreren oder mit einem Raucher in Zellen untergebracht waren, deren Quadratmeterzahl unter der für jeden Gefangenen zu fordernden Mindestgröße lag. Die Unterbringung auf weniger als 5 m2 wurde als Verstoß gegen die Menschenwürde gewertet. Der Ersatzanspruch richtete sich z.B. auch nach der Dauer der rechtswidrigen Unterbringung und betrug meist zwischen 10 € und bis zu 25 €/Tag.
Offenbar ist es den Gefängnisleitungen nach einer Vielzahl solcher Gerichtsentscheidungen gelungen, den Mangel abzustellen und die Strafgefangenen menschenwürdig unterzubringen. Nachdem die Klagewelle „durch war“, sind keine weiteren einschlägigen Entscheidungen mehr bekannt geworden.
Im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts rollt nun eine neue Welle auf die Gerichte zu. Strafgefangene dulden es nicht länger, sich ohne hinreichenden Anlass in entwürdigender Weise untersuchen zu lassen. Was daran stört, ist der Umstand, dass die öffentliche Hand nicht von sich aus erkennt, wenn das Handeln der Staatsdiener zu weit geht. Vielmehr muss sie im Einzelfall „zurückgepfiffen“ werden und damit nicht genug, sie handelt erst (hoffentlich), wenn das BVerfG (Entscheidung vom 5.11.2016 – 2 BvR 6/18, NJW 2017, 725) und der EGMR (Entscheidung vom 22.10.2020 – 6780/18 – 30776/18, NJW 2022,35 ff.) abschließend entschieden haben.
Was ist geschehen?
Der 1960 geborene Beschwerdeführer ist Deutscher und verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe in einer Justizvollzugsanstalt (JVA). In den Jahren 2014 bis 2016 erfolgten bei ihm nach Besuchskontakten auf Anordnung der Gefängnisleitung, nach der jeder fünfte Gefangene, einer solchen Durchsuchung zu unterziehen war, zahlreiche Leibesvisitationen. Die Anordnung sah keine Möglichkeit vor, im Einzelfall auf eine Durchsuchung zu verzichten. Der Beschwerdeführer musste sich entkleiden und im Mund, unter den Achseln und dem Anus untersuchen lassen.
Ende 2016 entschied das BVerfG (a.a.O.) auf die Beschwerde eines anderen Häftlings, dass diese Untersuchungen einen unverhältnismäßigen Eingriff in dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht darstellten und verfassungswidrig seien.
In der Folgezeit erreichte der Beschwerdeführer vor dem LG Regensburg und dem OLG Nürnberg die Feststellung der Rechtswidrigkeit einzelner Leibesvisitationen. Seine Anträge, wegen sechs Leibesvisitationen Prozesskostenhilfe für eine Amtshaftungsklage zu erhalten, scheiterten, weil ihm eine Entschädigung bereits durch die Feststellung der Rechtswidrigkeit durch die Entscheidungen des BVerfG, des LG Regensburg und des OLG Nürnberg in ausreichendem Maße gewährt worden sei, weil trotz des schweren Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht allenfalls von einem geringfügigen Verschulden der Angestellten der JVA auszugehen sei und weil keine Wiederholungsgefahr bestehe.
Zu erwähnen ist noch eine Besonderheit des Falles: Bei den Besuchskontakten des Beschwerdeführers handelte es sich um Angestellte des Amtsgerichts, die Anträge des Beschwerdeführers zu Protokoll genommen haben und in einem Fall um einen Polizisten.
Aus diesem Sachverhalt ergibt sich, dass
- in allen Fällen der Leibesvisitation eine Grundrechtsverletzung zu sehen ist,
- die Sicherheit der JVA durch stichprobenartige Leibesvisitationen nicht gesichert wird, weil 80 % der Kontakte nicht geprüft werden, sie wird allenfalls verbessert;
- die Sicherheit der JVA durch höheren Personaleinsatz, jedenfalls aber durch bauliche Maßnahmen, was auf der Hand liegt, wesentlich besser schützt werden könnte und
- bei Besuchern, von denen keine Gefährdung der Sicherheit der JVA ausgehen kann, oder sehr unwahrscheinlich ist – und als solche muss die öffentliche Hand Geschäftsstellenangestellte eines Gerichts und Polizisten ansehen – zwingend von einer Verletzung der Grundrechte eines Häftlings abgesehen werden muss.
Bevor es zu Eingriffen in die Menschenwürde oder zu einer Verletzung von Grundrechten kommt, ist es Aufgabe der Gefängnisleitung, der Aufsichtsbehörde und des jeweiligen Justizministers zu prüfen, ob personelle oder bauliche Veränderungen Abhilfe schaffen können.
In jedem Fall muss von der Gefängnisleitung geregelt sein, bei welchen Besuchern auf eine Leibesvisitation des Häftlings verzichtet werden kann und muss.
Solche Fragen stellen die Instanzgerichte nicht, obwohl deren Aufgabe auch darin besteht, die Rechtmäßigkeit des Handelns der öffentlichen Hand zu hinterfragen. Sie dürfen nicht nur prüfen, ob das Handeln des einzelnen Angestellten der Verfügung der Behördenleitung entspricht, sie müssen auch prüfen, ob die Anweisungen der Gefängnisleitung rechtens sind.
Und dann müssen sich die Instanzgerichte fragen lassen, wieso denn eine gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit staatlichen Handelns und das Fehlen einer Wiederholungsgefahr einen Entschädigungsanspruch befriedigen können. Diese Aussage – und natürlich der gesamte Verfahrensablauf – belegen, dass die beteiligten Richter der Menschenwürde und den Grundrechten eines Strafgefangenen im Grunde keine Bedeutung zumessen. Sie müssen sich auch fragen lassen, wieso denn ein Zivilprozess über zwei Instanzen einem Häftling verweigert wird, dessen Menschenwürde ohne Zweifel verletzt wurde. Die rechtswidrige Amtspflichtverletzung wurde schon bejaht. Um das Verschulden der Angestellten der JVA geht es nicht, sondern um das Verschulden der Gefängnisleitung, das nicht verneint oder als geringfügig angesehen werden kann. Die für Amtshaftung zuständigen Kammern und Senate haben nicht die Aufgabe, die öffentliche Hand zu schützen, sondern deren Handeln auf Rechtmäßigkeit zu überprüfen, zu kontrollieren und zu überwachen.
Der EGMR (a.a.O.) macht in seiner Entscheidung klar, dass Menschenrechte und Grundrechte zu beachten sind und dass deren Verletzung schwer wiegt und Folgen haben muss. Menschenrechtsverletzungen und Grundrechtsverletzungen sind keine Bagatellen, sie fordern eine meist sehr hohe Entschädigung.