Das OLG Frankfurt (Urt. v. 22.12.2020 – 8 U 142/18) hatte über das Schmerzensgeld zu entscheiden, das den Erben einer Patientin gegen einen Arzt zustand. Ein Befunderhebungsfehler hatte dazu geführt, dass eine Krebsdiagnose um einen Monat verzögert wurde. Bei einer früheren Diagnose wäre die statistische Prognose der Patientin um 10–21 % günstiger gewesen. Der grobe Befunderhebungsfehler des Beklagten hat eine Beweislastumkehr zur Folge und es ist ihm nicht gelungen, die fehlende Kausalität zwischen dem Fehler und im Hinblick auf die Metastasierung des Sarkoms in Lunge und Hirn sowie bezüglich des Todes zu beweisen. Auch bei einer früheren Befunderhebung wäre der Verstorbenen die Tumorresektion und postoperativ die Bestrahlungstherapie in der erfolgten Intensität, wohl aber die Metastasierung, nicht erspart geblieben.
Die Patientin war eine 70 Jahre alte verheiratete Frau mit zwei Kindern und zwei Enkelkindern. Sie musste sich nun wegen Metastasen zunehmend Sorgen um ihr Leben machen und sich diversen körperlich und psychisch belastenden medizinischen Eingriffen unterziehen. Acht Monate vor dem Tod wurde ihr Kampf ums Überleben immer verzweifelter. Diese Zeit war leidensgeprägt und mit entsetzlichen Schmerzen verbunden.
Das LG Gießen hielt ein Schmerzensgeld in Höhe von 30.000 € für angemessen. Die LG-Kammer fügte allerdings hinzu, dass das Schmerzensgeld nicht (daneben) dem Zweck einer finanziellen Bereicherung dient, sondern auf die Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion beschränkt sei. Das OLG Frankfurt erkannte dennoch auf 50.000 €. Maßgeblich ist die Aussage des Gerichts, dass die Erblasserin voraussichtlich ohne den Fehler noch eine ganze Reihe von Jahren hätte leben können.
Wie ist nun das Schmerzensgeld in einem solchen Fall zu bemessen?
Die Rechtsprechung ist einhellig der Meinung, dass die Intensität des Leidens und dessen Dauer für die Bemessung maßgebend sind. Die Leidensdauer betrug hier rd. anderthalb Jahre, die Intensität des Leidens war über acht Monate ungewöhnlich hoch. Nicht nur die oben geschilderten körperlichen und psychischen Eingriffe und entsetzlichen Schmerzen sind zu bewerten, sondern auch der Umstand, dass die Patientin ihre Chancen auf eine Genesung zunehmend habe schwinden sehen und sich auf den immer konkreter bevorstehenden Tod habe einstellen müssen.
Der OLG-Senat greift den Hinweis der LG-Kammer auf, das Schmerzensgeld (hier für die Erben) habe nicht (daneben) dem Zweck einer finanziellen Bereicherung zu dienen, sondern sei auf die Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion beschränkt. Der Senat geht trotz des höheren Schmerzensgeldes in seiner abwertenden Begründung noch weiter. Zu Recht meint er, dass die Leidensdauer von ca. anderthalb Jahren im Vergleich zu anderen Fällen einer Verletzung mit Todesfolge nach ärztlichen Behandlungsfehlern eher gering sei.
Die eigentliche Begründung für die Bemessung des Schmerzensgeldes fasst der Senat in dem der Entscheidung vorangestellten amtlichen Leitsatz 4 zusammen:
„Die erlittene Lebensbeeinträchtigung ist bei einer 70 Jahre alten Person typischerweise unterdurchschnittlich, da man in diesem Alter die zentralen erfüllenden Momente des Lebens wie etwa Jugend, Liebe, Hochzeit, Mutterschaft und beruflichen Erfolg noch erleben konnte.“
Die Patientin hätte voraussichtlich ohne den Fehler zwar noch eine ganze Reihe von Jahren leben können. Ihr Leben sei aber erst zu einem Zeitpunkt beeinträchtigt worden, zu dem sie persönlich allein schon wegen ihrer Grunderkrankung erhebliche Einschränkungen im Sport- und Freizeitbereich hätte hinnehmen müssen und zu dem sich statistisch alsbald weitere altersbedingte gesundheitliche Probleme hinzugesellt hätten. Sie habe schließlich keine schutzbedürftigen Angehörigen zurücklassen.
Man könnte ergänzen: Eine 70 Jahre alte Person, die die zentralen erfüllenden Momente des Lebens erlebt hat, wartet – auch wenn sie noch eine ganze Reihe von Jahren leben kann – eigentlich nur noch auf den Tod.
Zu beachten ist: Wann und wie sie gestorben wäre, kann kein Gericht feststellen. Deshalb ist die folgende Begründung reine Spekulation: Hinsichtlich der Grunderkrankung selbst habe der Beklagte allenfalls eine nicht näherungsweise bestimmbare Verschlechterung zu vertreten, so dass die damit verbundenen Schmerzen ihm nur sehr eingeschränkt zugerechnet werden könnten.
Die Höhe des Schmerzensgeldes bestimmt der Tatrichter nach seinem Ermessen. Mit einem Schmerzensgeld von 50.000 € fügt sich die Entscheidung des OLG Frankfurt problemlos in die Entscheidungen zu Verletzungen mit Todesfolge ein. Die Begründung des Senats zur Lebenserwartung und zur Lebensbeeinträchtigung einer 70 Jahre alten Person sind respektlos und ehrlich gesagt peinlich.