WELT-Wirtschaftskorrespondent Philip Vetter kommt aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Unter der Überschrift „Der seltsame Poker um die Millionen von Winterkorns Versicherung“ (27.3.2021) wundert er sich erst einmal, dass die Anwälte des VW-Konzerns erst „mehr als fünf Jahre nach Bekanntwerden des Skandals zu dem Ergebnis gekommen“ sind, dass bloß „fahrlässige aktienrechtliche Sorgfaltsverletzungen“ vorlägen. Dann fragt Vetter sich, warum es „keineswegs darum“ gehen soll, „dass Winterkorn frühzeitig von der Installation der Manipulationssoftware gewusst haben soll oder diese sogar angeordnet haben könne“, sondern „nur“ darum, dass Winterkorn es unterlassen habe, Pflichtverletzungen anderer Ex-Organe „unverzüglich und umfassend aufzuklären“. Dann überrascht es Vetter, dass die Anwälte Winterkorns so gut vorbereitet waren, denn „nur wenige Minuten“ nach der Bekanntgabe seiner Inanspruchnahme hätten diese schon mit einer vorbereiteten Presseerklärung reagiert. Und schließlich wundert Vetter sich auch noch über den Zeitpunkt der Ankündigungen – bisher wollte man das Strafverfahren gegen Winterkorn abwarten, das aber soeben erst „ein zweites Mal“ verschoben worden sei –, nur um dann selbst auf eine mögliche Erklärung zu kommen: geht es etwa um „eine goldene Brücke“, die man Winterkorn jetzt bauen wolle, um „mithilfe seiner Versicherung und einer möglichen Millionenzahlung als eine Art Selbstbeteiligung aus der Sache herauszukommen“?
Aber ist das so einfach möglich? Kann der Geschädigte sich eine fahrlässige Pflichtverletzung herauspicken und andere, vorsätzliche oder wissentliche (was immer die Police konkret vorschreibt) Pflichtverletzungen ignorieren? Bis BGH, VersR 2015, 1156 war das denkbar. Aber mit diesem Urteil hat der BGH die Deckungspflicht aus der Vermögensschadenhaftpflicht abgelehnt, wenn auch nur eine von mehreren Pflichtverletzungen vorsätzlich/wissentlich begangen wurde. Bis dahin war das andersherum: erfolgte auch nur eine Verletzungshandlung fahrlässig, musste sie gedeckt werden, selbst wenn gleichzeitig weitere vorsätzlich/wissentlich begangene Pflichtverletzungen vorlagen. Was heißt das für die D&O-Versicherung?
Der Autor dieser Zeilen hat für den – auch hier vorliegenden – Fall der gleichzeitigen Inanspruchnahme von mehreren Organen eine Lösung vorgeschlagen (VersR 2017, 1365), nach der die Freistellung gegenüber der VN in der Höhe zu versagen ist, wie die wissentlich/vorsätzlich handelnde versicherte Person im Gesamtschuldnerausgleich mit der nur fahrlässig handelnden Person alleine haften würde. Die Haftungsquotierung habe schon im Haftpflichtprozess nach den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld zu erfolgen. Mit diesem Vorschlag haben sich zahlreiche Stimmen beschäftigt (Segger, VersR 2018, 329; Dilling, VersR 2018, 332; Looschelders, VersR 2018, 1413; Ihlas in Langheid/Wandt, MünchKomm/VVG Bd.3 D&O Rz. 891 ff.; Kordes, r+s 2019, 307; Lange, VersR 2020, 588; de Lippe, VersR 2021, 69), allerdings ohne den Kern des Problems (vollständig) zu erfassen.
Tatsächlich genießen die versicherten Organe mit Ausnahme des wissentlich Handelnden uneingeschränkte Abwehrdeckung, während sie bei der Freistellung keinen Nachteil erleiden, weil ihre Haftung von vorneherein um den Anteil gekürzt wird, der auf die wissentliche Handlung entfällt. Auch die VN erleidet durch die vorgeschlagene Lösung keinen Nachteil. Denn auch ohne D&O-Deckung wäre ihr Anspruch gegen den fahrlässig Handelnden entsprechend zu kürzen. Der (nur) fahrlässig Handelnde haftet nicht in vollem Umfang für einen Schaden, den ein anderer wissentlich herbeigeführt hat. Dass der Anspruch der VN gegen das fahrlässig handelnde Organ um den Anteil für den Vorsatz gekürzt wird, liegt an § 103 VVG und keineswegs an der Existenz eines D&O-Vertrags. Der Versicherer soll nach dem Prinzip der BGH-Rechtsprechung nicht für die Folgen einer wissentlichen Pflichtverletzung einzutreten haben, während der wissentlich/vorsätzlich Handelnde ja uneingeschränkt – im Rahmen seiner Solvenz – als Schuldner zur Verfügung steht.
Es ist gut, dass es jetzt zum Praxistest kommt. Kann der VW-Konzern seine Schadensersatzansprüche nur auf fahrlässige Kontrollpflichtverletzungen stützen, ohne dass wissentliche/vorsätzliche Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit dem Einbau der manipulierten Software eine Rolle spielen? Oder müssen solche Pflichtverletzungen in eine Gesamtbetrachtung einbezogen werden, weil der D&O-Versicherer davon nicht freistellen muss? Bei nur einem haftenden Organ wäre BGH, VersR 2015, 1156 sogar unmittelbar anzuwenden: treffen fahrlässige und wissentliche/vorsätzliche Pflichtverletzungen zusammen, scheidet eine Deckung in toto aus. Bei der Inanspruchnahme mehrerer Organe, wären fahrlässige Pflichtverletzungen gedeckt, aber nur im Verhältnis zu dem Schaden, der durch die wissentlichen/vorsätzlichen Pflichtverletzungen verursacht wurde. Und das prozessuale Problem, wenn nur eine versicherte Person in Anspruch genommen würde, für deren Verurteilung es keinen Unterschied macht, ob sie fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt hat, ist keines: Der D&O-Versicherer kann dem Haftpflichtprozess beitreten, um seine Haftungs- und Deckungseinwendungen vorzutragen. Wenn das Gericht des Haftpflichtprozesses zwischen den entscheidenden Verschuldensformen nicht differenzieren will (weil es bei ihm nicht darauf ankommt), wird das im nachgelagerten Deckungsprozess zu entscheiden sein. Oder man lässt das alles von vorneherein in einem Verfahren entscheiden: es gibt ja bekanntlich eine Institution, die ein – von manchen Zweiflern ebenso intensiv wie unbegründet gefürchtetes – Schiedsverfahren anbietet, in denen Deckung und Haftung uno actu erledigt werden. Dann hätte WELT-Korrespondent Vetter schon wieder was zum Staunen.