Ein Immergrün des Versicherungsrechts: die Gefahrerhöhung

Neue Diskussionen im Zusammenhang mit Covid-19

Die Coronakrise hat die seit langem diskutierte Frage, ob bestimmte Ereignisse als Beginn des Versicherungsfalls einzustufen sind oder als eine zu sanktionierende Gefahrerhöhung, wiederbelebt. Heute plädiert Theo Langheid für eine Gefahrerhöhung, im nächsten VersR BLOG antworten Jan Lüttringhaus und Florian Genz.

Mein Aufsatz NVersZ 2002, 433, in dem der 9/11-Anschlag als „Quantensprung des Terrorismus“ und dieser als Gefahrerhöhung jedenfalls in der Veranstaltungsausfall-Versicherung (es ging um die Fußball-WM 2002) identifiziert wurden, erfreut sich gut 18 Jahre später, dank Corona, wieder beträchtlicher Aufmerksamkeit. Allerdings nur als Gegenstand der Auseinandersetzung damit, keineswegs im Sinne der erhofften Zustimmung (anderer Meinung sind Lüttringhaus/Genz, r+s 2020, 258; leicht fragend und auf künftige Rechtsprechung vertrauend Schreier, VersR 2020, 513 [519]; vorsichtig zustimmend immerhin Günther/Piontek, r+s 2020, 242, das pandemische Geschehen nicht als prinzipielle Gefahrerhöhung sehend, wohl aber dessen nicht vorhersehbare Folgen). Zuvor ließ sich bedauerlicherweise niemand vom „Quantensprung“ überzeugen (vgl. nur Armbrüster in Prölss/Martin, 30. Aufl. § 23, Rz. 90; Reusch in Langheid/Wandt MünchKomm/VVG, 2. Aufl. § 23 Rz. 257; Loacker in Schwintowski/Brömmelmeyer, 3. Aufl., §23, Rz. 26). Aber man soll die Hoffnung ja nie aufgeben. Allgemein konsensfähig dürfte jedenfalls sein, dass eine Gefahrerhöhung eine vom zur Zeit der Antragstellung bestehenden Status quo abweichende, auf Dauer angelegte Änderung der gefahrerheblichen Umstände ist, die die Eintrittswahrscheinlichkeit des Risikos erhöht und aufgrund der bekannten Umstände in eine Risikoanalyse nicht einbezogen werden konnte. Wie aber ist Covid-19 in dieses Schema einzuordnen?

Soweit Lüttringhaus/Genz in r+s 2020, 258 (261) in toto in einer Pandemie keine Gefahrerhöhung sehen wollen, weil sie in bekannten Phänomen und darauf basierenden Geschäftsmodellen ein „beredtes Zeugnis“ für deren Vorhersehbarkeit erkennen zu glauben können, bezeugen ausgerechnet die angeführten Beispiele eher die Richtigkeit des Gegenteils: „Bekannte H5N1“-Risiken klingen beeindruckend, aber das verflüchtigt sich, wenn man feststellt, dass es sich um die Vogelgrippe handelt, an die sich nur noch Ältere vage erinnern, weil sie nie zu einem auch nur ansatzweise vergleichbaren Szenario geführt hat. Nicht die Pandemie ist das unerwartete Phänomen, sondern die administrative (Über?-)Reaktion darauf. Deswegen sind auch Hongkong-Grippe und Marburg-Fieber – obwohl viel tödlicher – vollkommen aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Die ebenfalls als „beredtes Zeugnis“ angeführte SARS-Pandemie hat 774 Menschen das Leben gekostet! Kann, ja darf man das mit dem gegenwärtigen Drama, das trotz bis zum Frühjahr dieses Jahres nicht gekannter Grundrechtseinschränkungen zu jetzt über 1 Mio. Opfern geführt hat, vergleichen? Mit Verlaub: dass die Damen-Fußball-WM 2003 von China in die USA verlegt werden musste, ist traurig, eignet sich aber bestenfalls als Frage für einen TV-Quizz. Solche Petitessen dürfen kein Vergleichsmaßstab sein. Sie zeigen vielmehr: abstrakt ist das Phänomen bekannt, aber seine konkrete Verwirklichung liegt jenseits aller Vorstellungskraft. Konkret geht es um ein Risiko, bei dem die behördlichen Maßnahmen bewirken, dass sich 100 % des betroffenen Bestands mit einer Quote von 100 % verwirklichen. Einen solchen Total-Totalschaden kann man redlicherweise nicht als versichert ansehen. Und soweit Pandemien vorhergesehen wurden, galten sie als nicht modellierbar und nicht versicherbar, nicht umsonst wurde nach einem Pandemie-Äquivalent für „Extremus“ gerufen.

Vielleicht helfen ja Beispiele aus Parallelwelten. Hätte beispielsweise Winston Churchill am 19.2.1915 den Angriff auf die Dardanellen befohlen, wenn er gewusst hätte, dass dort eine bis an die Zähne bewaffnete türkische Artilleriedivision festsaß, was am Ende zu 100.000 Toten und 250.000 Verwundeten führte? Oder hätte er andere Wege gesucht, um nach Konstantinopel zu gelangen? Und wäre Präsident Kennedy am 22.11.1963 nach Dallas gefahren, wenn er gewusst hätte, dass dort ein Attentäter im Hinterhalt lag? Oder hätte er seine Reisepläne geändert oder zumindest das Verdeck der Limousine schließen lassen? Die Antwort auf die Fragen der 1. Kategorie lautet „selbstverständlich nicht“ und die für die 2. Kategorie „eindeutig ja“. Ganz genauso verhält es sich mit Covid-19. Würde ein Versicherer ein Risiko zeichnen, wenn ein weltweiter Shutdown zu einer 100-%igen Realisierung des gesamten Bestands führen kann? Wenn er zwar mit einer Pandemie rechnen muss, aber nicht mit geschlossenen Grenzen, Ausgangssperren, Kontaktverboten und einem globalen Total-Stillstand des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens? Die Antwort lautet auch hier: selbstverständlich nicht! Und würde er das Risiko abgelehnt oder zumindest Ausschlüsse, Sublimits oder höhere Prämien verlangt haben? Eindeutig ja!

Eine Kontrollüberlegung aus dem Recht der vorvertraglichen Anzeigepflicht bestätigt dieses Ergebnis. Bekanntlich soll sich der Versicherer nicht auf eine Gefahrerhöhung berufen können, wenn diese auf Umständen beruht, nach denen der Versicherer nicht gefragt hat. Im Rahmen der „spontanen“ Anzeigepflicht, also ungefragt, muss der Versicherungsnehmer einen Umstand nach der strengen Auffassung von OLG Hamm, VersR 2015, 1551; OLG Celle, VersR 2017, 211 und OLG Karlsruhe, VersR 2018, 866 nur angeben, wenn dieser einerseits ersichtlich gefahrerheblich ist, zugleich aber so ungewöhnlich, dass eine Frage danach vom Versicherer nicht erwartet werden kann. Das reduziert die spontane Anzeigepflicht auf ein kaum mehr praxisrelevantes Minimum. Und dennoch fällt die Covid-19-Pandemie in exakt diese seltene Kategorie: Die Drastik der politischen Reaktion auf die Seuche ist ohne jeden Zweifel „ersichtlich gefahrerheblich“, ist aber gleichzeitig so extrem unwahrscheinlich, dass ein Versicherer danach nicht fragen muss oder kann. Selbst bei Anwendung der strengsten Maßstäbe hätte hier also Offenbarungspflicht bestanden. Für die Gefahrerhöhung heißt das: Covid-19 hat zu Konsequenzen geführt, die weder vorhersehbar noch kalkulierbar waren. Diese sind aber auch (extrem) gefahrerheblich, also etwas, was der Versicherer sicher nicht, jedenfalls nicht „einfach so“, übernommen hätte.

Es gilt, frei von Ideologien und Ressentiments ein Ergebnis zu finden, das den Interessen beider Seiten gerecht wird. Es geht nicht um einen Konflikt zwischen einer übermächtigen Industrie mit schier unbegrenzter Wirkungsmacht auf der einen und einem hilf-, ressource- und deswegen wehrlosen Versicherungsnehmer auf der anderen Seite. Es geht vielmehr darum, ob individuelle Forderungen einer gut organisierten, maklervertretenen Industrie- und Gewerbekundschaft ein Kollektiv belasten dürfen, obwohl diesem nur Prämieneinnahmen zur Verfügung stehen, die auf gänzlich anderen Prämissen und Modellierungen beruhen und in krassestem Missverhältnis zu einem Pandemieschaden wie Covid-19 stehen. Auch das Versichertenkollektiv genießt den Schutz des Grundgesetzes und seine Interessen sind beachtenswert. Dieses Diktum des BVerfG (VersR 2006, 489) ist der Prüfungsmaßstab.