Nie mehr Leistungsfreiheit für wissentliche Pflichtverletzungen?

Ein bemerkenswertes Urteil zur D&O-Versicherung

Nach einem (immer noch) druckfrischen Urteil des OLG Frankfurt (Urt. v. 17.3.2021 – 7 U 33/19, VersR 2021, 1355 = BeckRS 2021, 21475) kann sich ein D&O-Versicherer nicht auf die Klausel berufen, nach der er bei streitiger Wissentlichkeit der Pflichtverletzung vorläufig Deckung gewährt und nach „rechtskräftiger“ Feststellung der Wissentlichkeit zur Rückforderung der bereits erbrachten Abwehrleistungen berechtigt sein soll. Der Versicherungssenat des OLG Frankfurt hat entschieden, dass die Feststellung der Wissentlichkeit im Haftungsverfahren trotz des Grundsatzes der Bindungswirkung, der das Trennungsprinzip zwischen Haftungs- und Deckungsverfahren seit alters her ergänzt, nicht maßgeblich sein soll. Aber auch im Deckungsverfahren könne das Erfordernis der „rechtskräftigen“ Feststellung einer wissentlichen Pflichtverletzung nicht erfüllt werden. Denn zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem zuständigen Gericht könne die Rechtskraft der erst noch zu fällenden Entscheidung niemals eingetreten sein. Das heißt: so sehr auch Vorsatz oder Wissentlichkeit in Bezug auf die den Schadensersatz auslösenden Pflichtverletzung zu bejahen sein werden, das zuständige Gericht wird zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nie deren Vorliegen in Rechtskraft feststellen können.

So weit, so absurd. Schadenfrohe könnten sich die Hände reiben, dass die D&O-Versicherer sich hier selbst ein Bein gestellt zu haben scheinen, indem sie eine „kundenfreundliche“ Klausel verwandt haben, die weit über die gesetzlichen Voraussetzungen der Leistungsfreiheit bei Vorsatz/Wissentlichkeit hinausgeht. Aber unabhängig davon, ob solche Formulierungen nicht als Maklerklauseln einer ABG-Kontrolle zugunsten des Versicherers unterliegen (und dann an § 103 VVG als gesetzlicher Vorgabe scheitern müssten), muss das Urteil des OLG Frankfurt überraschen. Nicht nur, dass § 103 VVG nicht einmal Erwähnung findet – danach ist der Versicherer ganz unabhängig von allen AVB-Formulierungen bei Vorsatz/Wissentlichkeit leistungsfrei – überzeugen schon die Ausführungen zur (verneinten) Bindungswirkung des Haftpflichtverfahrens nicht. Danach könne eine rechtskräftige Feststellung der wissentlichen Pflichtverletzung (…) jedenfalls im Haftpflichtprozess nicht“ erfolgen. Dort würde „nur über den Haftpflichtfall entschieden, wobei in die Rechtskraft der dortigen Entscheidung der Versicherer nicht einbezogen ist, da er an diesem Rechtsstreit nicht als Partei beteiligt ist“ (Rz. 134). Es ist rätselhaft, warum der Senat die Einbeziehung des Versicherers in das Haftungsverfahren zu einer notwendigen Voraussetzung für den Eintritt der Bindungswirkung erklärt. Der Haftpflichtversicherer ist am Haftungsverfahren nie beteiligt, was am Prinzip der Trennung zwischen Deckungs- und Haftpflichtverfahren liegt und deshalb gleichsam Voraussetzung für die Bindungswirkung ist, wie sie zum Beispiel in § 124 VVG für die Pflichtversicherung wechselseitig gesetzlich festgeschrieben ist. Offenbar klammert der Senat sich an den Begriff der „Rechtskraft“ in Differenzierung zur Bindung; aber auch das überzeugt nicht, was an der fehlsamen Interpretation der fraglichen Klausel liegt.

Denn die erkannte Intransparenz der Klausel liegt tatsächlich nicht vor. Das OLG meint, es würde „nicht hinreichend deutlich, in welchem Rechtsverhältnis eine rechtskräftige Feststellung getroffen werden muss, um die Klausel zu erfüllen. Dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer – auch einem solchen einer D&O-Versicherung – werden die verschiedenen Rechtsverhältnisse und die in diesem Zusammenhang sich stellenden – im Einzelnen auch in Rechtsprechung und Literatur streitigen – Fragen zur Bindungswirkung eines Urteils im Haftpflichtprozess, deren Reichweite und der Begriff der Voraussetzungsidentität nicht geläufig sein“ (Rz. 134). Zum einen: hier tut der Senat selbst etwas, was er soeben noch abgelehnt hat, indem er „Rechtskraft“ und „Bindungswirkung“ gleichsetzt. Zum anderen: es kann auf ein spezifisches Rechtsverhältnis gar nicht ankommen, denn es ist vollkommen gleichgültig, „in welchem Rechtsverhältnis“ die Wissentlichkeit festgestellt wird. Geschieht das im Haftpflichtverfahren, greift die Bindungswirkung. Geschieht das im Deckungsverfahren, um so besser. Das ist auch für das schlichteste Gemüt in deutschen Geschäftsleitungen nachvollziehbar und man kann sicher sein: das hat noch nie jemand nicht verstanden.

Und die Ausführungen des OLG Frankfurt zur nie erreichbaren Rechtskraft lesen sich fast ein bisschen schadenfroh. Der D&O-Versicherer als alt-griechischer Tantalos-Mythos, der für seinen Götterfrevel mit gleichnamigen Qualen bestraft wird. Denn so wie vor ihm das Wasser des Teichs zurückweicht, wenn er seinen Durst löschen und davon trinken will, kann der Versicherer die Rechtskraft nie erreichen, weil sie bereits vorliegen muss, wenn die fragliche Entscheidung erst ergeht. Ein echter Kobayashi-Maru-Test. Das liegt daran, dass der Senat die fragliche Klausel wie folgt liest: „Der Versicherer gewährt trotz des Verdachts von Wissentlichkeit Abwehrdeckung. Auch wenn später Wissentlichkeit gerichtlich festgestellt werden kann, wird er davon nie Gebrauch machen, weil die erforderliche Rechtskraft der Entscheidung ihre Rechtskraft bereits voraussetzt“. Das ist natürlich das Gegenteil von dem, was die Vertragsparteien wirklich sagen und vereinbaren wollten. Bei ordnungsgemäßer Auslegung, die nach gefestigter BGH-Rechtsprechung stets einer richterlichen Inhaltskontrolle vorangehen muss, muss man die Klausel so verstehen: „Der Versicherer gewährt trotz des Verdachts von Wissentlichkeit vorläufige Abwehrdeckung. Wird später Wissentlichkeit gerichtlich festgestellt, kann er seine Deckungszusage rückwirkend widerrufen und erbrachte Leistungen zurückfordern. Davon wird er erst dann Gebrauch machen, wenn die gerichtliche Feststellung rechtskräftig ist“. Das ist an sich auch ohne große Auslegungskünste selbstverständlich, denn eine erstinstanzliche Entscheidung wird trotz ihrer vorläufigen Vollstreckbarkeit nie zu einer endgültigen Erledigung des Falles führen können, es sei denn, sie würde mangels Rechtsmittel rechtskräftig. Damit wären wir wieder am Anfang angelangt.