… oder: Von der Restaurierung eines Oldtimers
Die Helvetia Versicherungen empfehlen auf einer Hilfeseite zum Thema Oldtimerversicherung „Oldtimer nur selbst zu restaurieren, wenn es sich um eine Teilrestauration oder kleinere kosmetische Retuschen handelt“; im Übrigen „sollte stets auf die Verwendung von Originalteilen geachtet werden“. Das schweizerische VVG vom 2.4.1908 ist ein solcher Oldtimer, und zwar einer, zu dessen Restauration im eigenen Hobbykeller sich der schweizerische Gesetzgeber nunmehr definitiv entschlossen hat. Die Tipps der Helvetia wurden dabei strikt eingehalten: Von einer grundlegenden Überholung hat man abgesehen, repariert wurde in Eigenregie – also ohne nennenswerte Hinzuziehung externen Knowhow, das man durch angewandte Rechtsvergleichung hätte gewinnen können. Dementsprechend ist hinsichtlich Entwicklungen in anderen Rechtsordnungen nur punktuell berücksichtigt worden, was absolut unvermeidlich erschien. Auf die Erhaltung möglichst vieler historischer Originalteile wurde größter Wert gelegt; anderenorts blieben viele Änderungen kosmetisch.
Nach Jahrzehnten des Hin und Hers, des Vor und Zurücks sowie nach teilweise spektakulären politischen Rochaden steht nunmehr immerhin fest: Per 1.1.2022 kommt es tatsächlich zum Inkrafttreten eines neuen, teilrevidierten schweizerischen VVG. In den Worten des Zürcher Ordinarius Helmut Heiss könnte man insofern auch resümieren: „Was lange währt, wird endlich klein.“
Dass der kaum noch fahrtüchtige Oldtimer „schweizerisches VVG“ (der übrigens noch älteren Datums ist als das Ende 2007 aufgehobene, alte deutsche VVG) dringend einer Restauration bedurfte, war selbst in konservativsten Kreisen zuletzt nicht mehr bestritten. Geschieden haben sich die Geister „nur“ am tatsächlich nötigen Tiefgang und Umfang einer solchen Reform. Und eben dieser Umfang hat – anders als bei manchem von uns während des Corona-Lockdowns – im Verlauf der Zeit vor allem eines getan, nämlich abgenommen. Wozu sich deshalb jetzt der schweizerische Gesetzgeber noch durchringen konnte, wird zwar von manchen Branchenvertretern als „ausgewogen“ gelobt, nur gibt es tatsächlich gar nicht mehr viel zu wiegen, denn die mehrheitsfähig gewesenen Änderungen sind relativ überschaubar.
Widerrufsrecht
Gleichsam einen „Anschlusstreffer“ an innerhalb der Europäischen Union längst Etabliertes erzielte man mit der erstmaligen Einführung eines Widerrufsrechts des Versicherungsnehmers in Art. 2a und 2b VVG 2022. So begrüßenswert das in der Sache ist, so mangelhaft ist die legistisch-handwerkliche Umsetzung: Die 14-tägige Frist zur Ausübung des Widerrufsrechts beginnt nämlich – von unionaler Warte aus betrachtet: kaum mehr nachvollziehbar – selbst bei gänzlich fehlender Belehrung des Versicherers sofort zu laufen; entsprechende Pflichtenverstöße des Versicherers bleiben also häufig sanktionslos. Auch wenn man sich dadurch (hier im VersR BLOG bereits besprochene ) „Ewigkeitsfragen des Widerrufs“ von vornherein erspart, überzeugt die schweizerische Brachiallösung keineswegs. Daran vermag nichts zu ändern, dass dem Versicherungsnehmer nach Art. 3a Abs. 2 VVG 2022 ein (anders als der Widerruf) nur pro futuro wirkendes, höchstens zweijähriges Kündigungsrecht im Fall von Informationspflichtenverstößen gewährt wird. Umgekehrt ist – wenngleich diesmal zugunsten des Versicherungsnehmers – ebenso unverständlich, warum im neuen Gesetz keinerlei Maßnahmen gegen das in § 9 Abs. 1 dVVG u.a. regulierte contract hopping, also das gezielte Erschleichen von Versicherungsschutz durch Aneinanderreihen widerrufsbewehrter, kurzfristiger Verträge, getroffen wurden.
Abschied von Genehmigungsfiktion und Rückwärtsversicherungsverbot
Überschießend ist die Abschaffung der im vormaligen VVG enthaltenen Genehmigungsfiktion bei Policenabweichungen. Überschießend deshalb, weil die eigentliche Gefahr einer solchen Fiktion insbesondere von einer mangelhaften Belehrung über die konkreten Änderungen und die Fiktionswirkung abhängt. Während § 5 Abs. 2 dVVG diesem Aspekt bekanntlich Rechnung trägt, hat man sich in der Schweiz nun dazu entschlossen, jede gesetzliche Regelung insofern aufzuheben. Die alte schweizerische Regelung war zwar derart missglückt, dass ihr niemand ernsthaft eine Träne nachweinen wird, aber mit der jetzigen Radikalelimination wurde doch das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Nach dem Vorbild anderer Rechtsordnungen wäre mehr als das jetzige „Nichts“ erreichbar gewesen und ein Bereich des berechtigten Bedarfs an flexiblen Anpassungen wäre gewahrt geblieben.
Positiv zu bewerten sind demgegenüber systematische Verbesserungen im Gesetzesaufbau sowie der Abschied von hoffnungslos anachronistischen Regelungen wie etwa jener des geltenden Art. 9: Dieser erklärte Rückwärtsversicherungen grundsätzlich (!) für nichtig und zwang so das Bundesgericht mehr als ein Mal zu „kreativen Lösungen“ zur Entschärfung dieses offensichtlich verfehlten Generalverbots. Auch der in der Schweiz bisher gängigen Vorstellung, der Versicherungsnehmer hätte selbst hinsichtlich unbestrittener Leistungspflichten keinen klaren Anspruch auf Abschlagszahlungen, tritt die Teilrevision endlich entgegen: Der neue Art. 41a VVG 2022 gewährt erstmals (!) eine entsprechende Grundlage, die man etwa in der Bundesrepublik schon seit rund hundert Jahren kennt.
Teilmodernisierungen
Nur, aber immerhin dem Grunde nach begrüßenswert ist der Versuch des schweizerischen Gesetzgebers, den Realitäten des nicht-schriftlichen Wirtschaftslebens Rechnung zu tragen, indem Schriftformerfordernisse weitgehend gelockert werden. Was die konkrete Ausgestaltung dieser Lockerungen betrifft, so scheint allerdings manche Folgefrage noch nicht recht bedacht, obwohl es Anschauungsmaterial dafür etwa bei den österreichischen Nachbarn reichlich gegeben hätte. Diese haben ihr Versicherungsvertragsgesetz wesentlich tiefgehender an die heutigen Notwendigkeiten vor allem elektronischer Kommunikation angepasst. Das Unterbleiben solcher rechtsvergleichenden Anstrengungen seitens des schweizerischen Gesetzgebers erweist sich (neben dem schon angesprochenen Versicherungsnehmer-Widerrufsrecht) leider auch in anderen Bereichen als gravierender Nachteil: So hat man es etwa im Bereich der vorläufigen Deckung sträflich unterlassen, auch nur einen Blick auf die im Zuge der deutschen VVG-Reform eingeführten Änderungen zu werfen. Hätte man diesen Blick gewagt, wäre mehr als die Rudimentärregelung in Art. 9 VVG 2022 erreichbar gewesen. Doch wie der Verfasser dieses Blogeintrags schon bei anderer Gelegenheit festgestellt hat, gilt leider im VVG-Bereich nach wie vor: „Rechtsvergleichung wird leider selbst bei einem ressourcenstarken Gesetzgeber wie dem schweizerischen offensichtlich klein geschrieben.“
Dem Grunde nach erfreulich ist auch die Verlängerung der Verjährungsfrist (Art. 46 VVG 2022) von heute zwei auf künftig fünf Jahre. Der Höhe nach ist freilich im Schrifttum zu Recht gefragt worden, warum die Länge der Verjährungsfrist nicht mit jener harmonisiert wird, die bspw. einem Bankkunden zukommt. Die Schlechterstellung des Versicherungskunden will insofern nicht einleuchten.
Alte Fallstricke
In höchstem Maße reparaturbedürftig war der eklatante Mangel des heutigen schweizerischen VVG, wonach versicherungsnehmerseitige Anzeigepflichtverletzungen selbst bei bloß teilweiser Kausalität zur vollständigen Leistungsfreiheit des Versicherers führen können. Die reine „Beeinflussung“ des Versicherungsfalls genügte also bisher (nunmehr anders: Art. 6 Abs. 3 VVG 2022: „soweit“). Gleiches gilt für den Umstand, dass der Wortlaut des geltenden VVG selbst Raum dafür ließ, bei der Sanktionierung bestimmter Obliegenheitsverletzungen via AVB überhaupt auf jedes Kausalitätserfordernis (!) verzichten zu können. Dem wird nunmehr der überfällige Einhalt geboten (Art. 45 Abs. 1 lit. b VVG 2022). Anderenorts bleibt empfindlicher Reparaturbedarf unbefriedigt: So hat es bspw. auch die Teilrevision nicht gewagt, die Möglichkeit der AVB-basierten Etablierung vollständiger Leistungsfreiheit bei grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls zu unterbinden und das – nota bene: in der Schweiz „erfundene“ – Quotelungsmodell verbindlich festzuschreiben. Dass dieses Vakuum in der schweizerischen Praxis nicht häufig ausgenützt wird, ändert an dem legistischen Versäumnis nichts. In Deutschland würde im Jahr 2021 ein Gefährt mit solchen erheblichen „Rostschäden“ wohl kaum eine TÜV-Plakette erhalten.
Neue Sonderwege
Einen (für die Schweiz nicht untypischen) Sonderweg hat man mit Blick auf die Abdingbarkeit des zwingenden VVG-Schutzniveaus eingeschlagen: Neu wird nämlich in Art. 98a Abs. 2 VVG 2022 die Figur des sog. professionellen Versicherungsnehmers eingeführt, mit dem Verträge auch jenseits der zwingenden VVG-Vorgaben geschlossen werden können. So richtig es ist, eine solche – bis dato gänzlich unbekannte! – Abstufung zu ermöglichen, so fraglich erscheint, ob der konkret gewählte Sonderweg sich auch als Königsweg erweisen wird. Klar ist jedenfalls, dass die Umschreibung dieser professionellen Versicherungsnehmer u.a. als „Unternehmen mit professionellem Risikomanagement“ noch viel Klärungsbedarf birgt, will man den Anwendungsbereich der uneingeschränkten Privatautonomie nicht von Anfang an unvertretbar weit ziehen. Demgegenüber leuchtet die Einbeziehung namentlich institutioneller Kunden in den Kreis jener Nachfrager, die keines besonderen Gesetzesschutzes bedürfen, durchaus ein.
Direktklage
Um zu einem versöhnlichen Schlussbild zu gelangen und dem Eindruck eines allzu harschen Bashings des schweizerischen Gesetzgebers entgegenzuwirken sei zuletzt noch darauf hingewiesen, dass namentlich in Art. 60 Abs. 1bis VVG 2022 eine Neuregelung eingeführt wurde, die gegenüber jener in § 115 des deutschen VVG deutlich progressiver ist: Künftig können nämlich nicht nur Ansprüche aus Pflicht-Haftpflichtversicherungen im Wege eines direkten Forderungsrechts des Geschädigten geltend gemacht werden, sondern schlichtweg alle Haftpflichtversicherungsansprüche. Einen solchen „Sprung nach vorne“ hätte man dem sonst überaus zögerlichen schweizerischen VVG-Gesetzgeber kaum zugetraut. Nun ist man überrascht und kann sich – zumindest in einem Teilbereich – über den erzielten Fortschritt freuen.
Fazit
Das schweizerische VVG bleibt im Vergleich zu Pendant-Gesetzen in den Nachbarländern und vor allem zu den Entwicklungen auf unionaler Ebene auch ab dem Jahr 2022 ein Oldtimer, der mit Modernität wenig am Hut hat. Immerhin wurden aber mit der nun in Kraft tretenden Teilrevision einige der größten rechtspolitischen Dellen ausgebeult und die augenfälligsten Lackschäden optisch ausgebessert. Was bleibt, ist kein liebevoll restauriertes Sammlerstück, aber ein zumindest fahrtauglicher Gebrauchtwagen mit einigen Vorschäden. Wie weit man mit ihm im 21. Jahrhundert noch kommen wird, bleibt abzuwarten. Bis zur nächsten Werkstatt sollte es reichen.
Wortlaut des revidierten schweizerischen VVG 2022:
Das neue Gesetz ist unter diesem Link abrufbar.
Literaturhinweise:
- Loacker, Reform und Reformbedürftigkeit des schweizerischen VVG, in: Looschelders/Michael (Hrsg.), Düsseldorfer Vorträge zum Versicherungsrecht 2018, Karlsruhe 2019, 21 ff.
- Heiss, Was lange währt, wird endlich klein: die Revision des Versicherungsvertragsrechts in der Schweiz, in: Brömmelmeyer/Ebers/Sauer (Hrsg.), Innovatives Denken zwischen Recht und Markt, FS H.-P. Schwintowski, Baden-Baden 2018, 7 ff.
- Fuhrer, Deutliche Verbesserungen für die Kunden von Versicherungen, plädoyer 2/2021, 40 ff.
- Schnyder (Hrsg.), Versicherungsvertragsgesetz: Rückblick und Zukunftsperspektiven, 2015