Zur Unterscheidung zwischen Summen- und Schadensversicherung
Die Betriebsschließungsversicherung ist zurzeit in aller Munde. Versicherungsrechtlich ist sie ein noch weitgehend unbestelltes Feld. Erst seitdem die Corona-Pandemie auch in Deutschland angekommen ist, haben sich Literatur und inzwischen auch die Rechtsprechung (z.B. OLG Hamm VersR 2020, 1103 = BeckRS 2020, 17526; LG Mannheim VersR 2020, 904) mit dem Umfang des Deckungsschutzes solcher Verträge näher auseinandergesetzt. Im Mittelpunkt steht dabei die umstrittene Frage, ob sie auch Schutz für das neuartige Coronavirus bieten. Neben all den unterschiedlichen Auffassungen, die hierzu vertreten werden, ist eine andere Frage bislang weniger lebhaft diskutiert worden: Wie ist diese Versicherung eigentlich einzuordnen? Hierzu ist zuletzt angenommen worden, es handele sich bei der Betriebsschließungsversicherung nicht um eine Schadensversicherung, sondern um eine Summenversicherung (Günther/Piontek, r+s 2020, 242, 245; Rixecker, in Schmidt, COVID-19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 2020, § 11 Rz. 56). Derartige Abgrenzungsfragen sind keineswegs eine Besonderheit der Betriebsschließungsversicherung. Auch eine aktuelle Entscheidung des BGH vom 15. Juli 2020, in der es um die „schwierige Frage“ der Ausgestaltung der Reiserücktrittskostenversicherung als Schadens- oder Summenversicherung ging (BGH BeckRS 2020, 17039), gibt Anlass, sich einen Überblick über die Einordnung von Versicherungsverträgen zu verschaffen.
In Lehrbüchern liest man hierzu oft: „Eine Summenversicherung ist stets eine Personenversicherung, nicht aber umgekehrt.“ (Armbrüster, Privatversicherungsrecht, 2. Aufl. 2019, Rz. 479; Wandt, Versicherungsrecht, 6. Aufl. 2016, Rz. 39). Tatsächlich ist die Typisierung von Versicherungen etwas komplexer, als es in diesem Merksatz zum Ausdruck kommen mag. Bei der Kategorisierung hilft auch die Systematik des VVG kaum weiter, welches weder von Personen- noch von Summenversicherungen spricht und auch ansonsten keine klaren Einteilungen erkennen lässt. Im Wesentlichen haben sich jedoch zwei wichtige Unterscheidungen etabliert:
Die erste Unterscheidung bezieht sich auf das versicherte Risiko. Da wären zunächst Versicherungen, deren versicherte Gefahren in der Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit liegen, wie etwa die Lebensversicherung (§§ 150 ff. VVG), die Berufsunfähigkeitsversicherung (§§ 172 ff. VVG) oder die Krankenversicherung (§§ 192 ff. VVG). Sie werden als Personenversicherungen bezeichnet. Alle anderen Versicherungsverträge, die keine personenbezogenen Risiken abdecken, werden demgegenüber meist mit dem etwas profanen Begriff der Nichtpersonenversicherung umschrieben. Zu nennen sind hier nur bespielhaft alle Arten von Sachversicherungen (wie etwa die Kasko-, Wohngebäude- oder Hausratversicherung) oder auch die Transport-, Rechtsschutz- oder Haftpflichtversicherung. Als Gegenstück zur Personenversicherung ist mitunter auch von dem Begriff der Kompositversicherung die Rede. Letztere Bezeichnung klingt zwar etwas eleganter, ist jedoch für die spartenbezogene Kategorisierung ungenau. Bei ihr handelt es sich um einen unternehmensrechtlich geprägten Sammelbegriff, unter den alle Versicherungszweige der Schaden- und Unfallversicherung (außer der Krankenversicherung) zusammengefasst werden. Hintergrund ist das in § 8 Abs. 4 S. 2 VAG verankerte Prinzip der Spartentrennung, nach dem die Lebens- und substitutive Krankenversicherung getrennt von anderen Versicherungszweigen betrieben werden müssen. Aus ihm wird zum Teil abgeleitet, dass etwa die Unfallversicherung, die von § 8 Abs. 4 S. 2 VAG nicht erfasst wird, nicht zur Personenversicherung zähle (Armbrüster, a.a.O., Rz. 107). Freilich beschränkt sich der Zweck der Regelung allein auf eine Trennung von Vermögensmassen und damit auf den Schutz der Versicherten (Präve, in Prölss/Dreher, VAG, 13. Aufl. 2018, § 8 Rz. 26). Hingegen lässt sich der aufsichtsrechtlich gebotenen Spartentrennung keine Aussage in Bezug auf die systematische Einordnung von Versicherungssparten entnehmen. Insbesondere spricht sie Kompositversicherungen wie der Unfallversicherung oder auch der Reisekrankenversicherung nicht ihre Eigenschaft als Personenversicherungen ab. Insofern sind Personenversicherungen und Kompositversicherungen keine Gegensätze.
Von größerer praktischer Relevanz ist eine zweite Unterscheidung hinsichtlich der vertraglich vereinbarten Versicherungsleistungen. Insoweit ist zwischen Schadensversicherungen und Summenversicherungen zu differenzieren. Während Schadensversicherungen – wie der Name schon sagt – einen tatsächlichen Schaden des Versicherungsnehmers und damit einen konkreten Bedarf abdecken sollen, zeichnen sich Summenversicherungen durch eine abstrakte Bedarfsdeckung aus. Hier verspricht der Versicherer bei Eintritt des Versicherungsfalls eine im Voraus vereinbarte Summe, unabhängig davon, ob und in welcher Höhe der Versicherungsnehmer einen konkreten Schaden erlitten hat. Diese Abgrenzung ist – im Gegensatz zur Unterscheidung zwischen Personen- und Nichtpersonenversicherungen – nicht nur theoretischer Natur. Sie entscheidet nämlich darüber, ob auf den Versicherungsvertrag die gesetzlichen Vorschriften zur Schadensversicherung (§§ 74 ff. VVG) Anwendung finden, namentlich die Regelungen zur Überversicherung (§ 74 VVG), zur Schadensminderungsobliegenheit des Versicherungsnehmers (§ 82 VVG) oder zum Übergang von Ersatzansprüchen (§ 86 VVG). Abgrenzungsschwierigkeiten können sich vor allem bei pauschalierten Entschädigungsleistungen ergeben, wie etwa bei einer Krankentagegeldversicherung (s. hierzu BGH, VersR 2001, 1100). Hierbei sind Summenversicherungen nicht mit einer sog. Taxe im Sinne von § 76 VVG zu verwechseln. Zwar wird auch hier die Versicherungsleistung vom konkreten Schaden ein Stück weit losgelöst, indem der Versicherungswert auf einen im Voraus vereinbarten Betrag fixiert („taxiert“) wird. Dies geschieht jedoch lediglich aus pragmatischen Gründen, um Streitigkeiten über die Höhe des Versicherungswerts in Fällen zu vermeiden, in denen die Ermittlung des konkret entstandenen Schadens mitunter schwierig sein kann (z.B. Höhe des Ertragsausfalls, Wert eines Kunstwerks). Solche pauschalierenden Vereinbarungen stellen aber, wie die Systematik des § 76 VVG zeigt, den Charakter einer Schadensversicherung nicht infrage.
Nun stellt sich die Frage, in welchem wechselseitigen Verhältnis diese Kategorien stehen. Hier kommt der eingangs erwähnte Merksatz ins Spiel: Personenversicherungen sind zwar meist als Summenversicherungen ausgestaltet (wie z.B. die Lebensversicherung oder die Berufsunfähigkeitsversicherung), sie müssen es aber nicht. Vielmehr können Personenversicherungen auch als Schadensversicherungen konzipiert sein, wie z.B. die Krankheitskostenversicherung (§ 192 Abs. 1 VVG). Nicht ohne Grund hat der Reformgesetzgeber die noch im alten VVG in § 1 Abs. 1 VVG a.F. anzutreffende Differenzierung zwischen „Schadensversicherungen“ und „Personenversicherungen“ aufgegeben. Größeren Erklärungsbedarf erfordert hingegen die These, eine Summenversicherung sei stets Personenversicherung. Mit ihr haben sich in der Vergangenheit immerhin ganze Dissertationen und Habilitationsschriften kritisch auseinandergesetzt (Gärtner, Das Bereicherungsverbot, 1970, S. 135 ff.; eingehend Winter, Konkrete und abstrakte Bedarfsdeckung in der Sachversicherung, 1962). Nun ist dies nicht der richtige Ort, um auf eine Grundsatzfrage angemessen einzugehen. Angemerkt sei an dieser Stelle nur, dass der Merksatz durchaus seine Berechtigung hat. Ließen sich nämlich in der Nichtpersonenversicherung, insbesondere in der Sachversicherung, vom tatsächlichen Bedarf völlig losgelöste Versicherungsleistungen nach Belieben vereinbaren, wären nicht nur die gesetzlichen Regelungen zur Taxe überflüssig, mit denen der Gesetzgeber zum Ausdruck bringt, dass „erheblich übersetzte“ Entschädigungsleistungen keine Bindungswirkung entfalten (vgl. § 76 S. 2 VVG). Es würden darüber hinaus auch die Grenzen der Versicherung zu Spiel und Wette (§ 762 BGB) verschwimmen. Nicht umsonst ist heute allgemeine Meinung, dass Nichtpersonenversicherungen keine Summenversicherungen, sondern nur Schadensversicherungen sein können (E. Lorenz, in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch., 3. Aufl. 2015, § 1 Rz. 86; Pilz, in BeckOK/VVG, 7. Ed. [Stand: 28.2.2019], § 1 Rz. 10).
Aus diesem Grund handelt es sich etwa bei der Reiserücktrittskostenversicherung richtigerweise um eine Schadensversicherung. Dass die gegenüber dem Reiseveranstalter vertraglich geschuldeten Stornokosten pauschal festgelegt werden, ändert nichts daran, dass der Versicherer mit dem Ersatz dieser Kosten einen konkreten Bedarf des Versicherungsnehmers abdeckt (Armbrüster, in Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, § 1 Rz. 140). Ebenso stellt die Betriebsschließungsversicherung – wie jede andere Form einer Betriebsunterbrechungsversicherung, bei der es um die Deckung eines konkreten Bedarfs in Form eines Ertragsausfalls geht – eine Schadensversicherung dar und zwar in Gestalt einer Taxe (Lüttringhaus/Eggen, r+s 2020, 250 [251]; Schreier, VersR 2020, 513 [516]). Insbesondere kann es für die Anwendung der §§ 74 ff. VVG keine Rolle spielen, ob der versicherte Ertragsausfall im Versicherungsfall im Wege einer konkreten Schadensberechnung ermittelt oder aus Vereinfachungsgründen bereits von vornherein durch die Parteien geschätzt wird. Insoweit bietet die Betriebsschließungsversicherung als weitere Erscheinungsform einer Nichtpersonenversicherung einen weiteren Beleg für die Richtigkeit des – wenn auch wenig eingängigen – Merksatzes.