Im Jahr 2011 schloss die Gesellschaft DTT mit der Gesellschaft CMR einen Handelsvertretervertrag über den Verkauf von 25 Einfamilienhäusern pro Jahr durch CMR für Rechnung von DTT. Der Vertrag sah eine Probezeit von zwölf Monaten vor, innerhalb deren jede Partei das Recht hatte, ihn mit einer bestimmten Frist zu kündigen. Etwa sechs Monate nach Abschluss des Vertrags kündigte DTT ihn, weil CMR innerhalb von fünf Monaten nur einen einzigen Verkauf getätigt und damit das vertraglich vereinbarte Ziel nicht eingehalten hatte.
CMR verlangt von DTT die Zahlung eines Ausgleichs zum Ersatz des mit der Beendigung des Handelsvertretervertrags verbundenen Schadens. Nach einer Unionsrichtlinie (Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. 12 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter [ABlEG 1986 L 382 S. 17]) hat der Handelsvertreter nach Beendigung des Vertragsverhältnisses Anspruch auf einen Ausgleich oder auf Schadensersatz. Der Handelsvertreter (im vorliegenden Fall CMR) hat Anspruch auf Ersatz des ihm durch die Beendigung des Vertragsverhältnisses mit dem Unternehmer (im vorliegenden Fall DTT) entstandenen Schadens, wenn er dadurch 1. Provisionsansprüche verliert, die ihm bei normaler Fortsetzung des Vertrags zugestanden hätten und deren Nichtzahlung dem Unternehmer einen wesentlichen Vorteil verschaffen würde, und/oder 2. Kosten und Aufwendungen nicht amortisieren kann, die er in Ausführung des Vertrags auf Empfehlung des Unternehmers gemacht hatte. Der Handelsvertreter hat Anspruch auf einen Ausgleich, wenn 1. er für den Unternehmer neue Kunden geworben oder die Geschäftsverbindungen mit vorhandenen Kunden wesentlich erweitert hat und der Unternehmer aus den Geschäften mit diesen Kunden noch erhebliche Vorteile zieht und 2. die Zahlung eines solchen Ausgleichs unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der dem Handelsvertreter aus Geschäften mit diesen Kunden entgehenden Provisionen, der Billigkeit entspricht.
Die mit dem Rechtsstreit zwischen CMR und DTT befasste Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) möchte vom Gerichtshof wissen, ob der Artikel der Richtlinie, der den Ausgleichs- oder Schadensersatzanspruch vorsieht, auch dann anwendbar ist, wenn der Handelsvertretervertrag während der Probezeit beendet wird, wobei diese in der Richtlinie nicht erwähnt wird.
In seinem Urteil stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die in der Richtlinie nicht geregelte Vereinbarung einer Probezeit unter die Vertragsfreiheit fällt und nach der Richtlinie nicht per se verboten ist.
Sodann führt der Gerichtshof auf der Grundlage einer Auslegung des Wortlauts der Richtlinie aus, dass die in der Richtlinie vorgesehene Ausgleichs- und Schadensersatzregelung keine Sanktion für die Vertragsauflösung sein soll, sondern den Handelsvertreter für die von ihm erbrachten Leistungen, aus denen der Unternehmer über die Beendigung des Vertragsverhältnisses hinaus Vorteile zieht, oder für die Kosten und Aufwendungen, die ihm für diese Leistungen entstanden sind, entschädigen soll. Daher darf dem Handelsvertreter der Ausgleich oder Schadensersatz, wenn die in der Richtlinie genannten Voraussetzungen erfüllt sind, nicht allein deshalb versagt werden, weil die Beendigung des Handelsvertretervertrags während der Probezeit eingetreten ist. Folglich besteht der Anspruch auf Ausgleich und auf Ersatz des erlittenen Schadens auch dann, wenn die Beendigung des Vertragsverhältnisses zwischen dem Unternehmer und dem Handelsvertreter während der Probezeit eintritt.
Der Gerichtshof fügt hinzu, dass dieses Ergebnis durch das Ziel der Richtlinie bestätigt wird, das u. a. im Schutz des Handelsvertreters in seiner Beziehung zum Unternehmer besteht, und dass in Anbetracht dessen jede Auslegung der Richtlinie, die sich für den Handelsvertreter als nachteilig erweisen könnte, ausgeschlossen ist. Würde man die Gewährung einer Entschädigung ohne Berücksichtigung der Leistung des Handelsvertreters oder der ihm entstandenen Kosten und Aufwendungen von der Vereinbarung oder Nichtvereinbarung einer Probezeit im Handelsvertretervertrag abhängig machen, würde er benachteiligt, weil ihm jegliche Entschädigung nur deshalb versagt würde, weil sein Vertrag mit dem Unternehmer eine Probezeit enthält.
EuGH, Urteil vom 19. 4. 2018 (Rs C-645/16 [Conseils et mise en relations – CMR – SARL ./. Demeures terre et tradition SARL])
(Pressemitteilung des EuGH Nr. 51 vom 19. 4. 2018)