Eine Radfahrerin, die beim Befahren eines Radwegs entgegen der Fahrtrichtung mit einem wartepflichtigen Pkw kollidiert, kann 1/3 ihres Schadens selbst zu tragen haben. Dass sie keinen Schutzhelm getragen hat, erhöht – bei dem Unfallereignis aus dem Jahre 2013 – ihren Eigenhaftungsanteil nicht. Das hat der 9. Zivilsenat des OLG Hamm am 4.8.2017 entschieden und damit das erstinstanzliche Grundurteil des LG Essen vom 30.9.2016 (9 O 322/15) teilweise abgeändert.
Tatbestand:
Die 1965 geborene Kl. aus M. befuhr im November 2013 mit ihrem Fahrrad die P.-Straße auf einem linksseitigen Geh- und Radweg. Diesem folgte sie auch, als er nur noch für Radfahrer aus der entgegengesetzten Fahrtrichtung freigegeben war. Die Kl. beabsichtigte, die Einmündung einer untergeordneten Straße zu queren, um dann nach links in diese Straße einzubiegen. Der im Jahr 1936 geborene Bekl. aus G. befuhr mit seinem Pkw der Marke Mercedes diese Straße und beabsichtigte, an der Straßeneinmündung nach rechts abzubiegen. Beim Abbiegen kollidierte sein Fahrzeug mit dem Fahrrad der Kl. Die Kl. stürzte auf die Motorhaube, rutsche mit ihrem Rad über die Straße und schlug mit dem unbehelmten Kopf auf der Fahrbahn auf. Mit einem ein Schädel-Hirn-Trauma, einem Schädel-Basis-Bruch und einer Kniefraktur erlitt sie schwerste Verletzungen.
Von dem Bekl. und seinem Haftpflichtversicherer verlangt die Kl. im vorliegenden Rechtsstreit Schadensersatz, u.a. ein Schmerzensgeld i.H.v. 40.000 Euro, eine monatliche Schmerzensgeldrente von 300 Euro, materiellen Schadensersatz von ca. 16.000 Euro sowie einen vierteljährlich mit 252 Euro auszugleichenden Haushaltsführungsschaden.
Aus den Gründen:
Das LG hat zunächst den Grund der Haftung aufgeklärt und der Kl. – unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens – 80% ihres Schadens zugesprochen. Bei der Überprüfung dieser Entscheidung in der Berufungsinstanz hat der 9. Zivilsenat des OLG Hamm das Mitverschulden der Kl. mit 1/3 bewertet.
Der Bekl. habe, so der Senat, den Unfall in erheblichem Umfang verschuldet, auch wenn er zunächst im Einmündungsbereich angehalten habe und dann langsam abgebogen sei. Gegenüber der Kl. sei er wartepflichtig gewesen. Die Kl. habe ihr Vorfahrtsrecht nicht dadurch verloren, dass sie den kombinierten Geh- und Radweg entgegen der Fahrtrichtung befahren habe, obwohl dieser für eine Nutzung in ihrer Fahrtrichtung nicht mehr freigegeben gewesen sei. Ein Radfahrer behalte sein Vorrecht gegenüber kreuzenden und einbiegenden Fahrzeugen auch dann, wenn er verbotswidrig den linken von zwei vorhandenen Radwegen nutze.
Die Kl. ihrerseits habe den Unfall mitverschuldet, weil sie mit ihrem Fahrrad den an der Unfallstelle vorhandenen Geh- und Radweg entgegen der freigegebenen Fahrtrichtung befahren habe. Dass die Kl. auf dem für ihre Fahrtrichtung nicht freigegebenen Weg erst wenige Meter zurückgelegt habe, entlaste sie nicht. Sie habe sich verbotswidrig auf dem Radweg befunden, den sie richtigerweise nur noch – ihr Fahrrad schiebend – als Fußgängerin hätte benutzen dürfen.
Demgegenüber rechtfertige das Nichttragen eines Schutzhelms keine Anspruchskürzung zulasten der Kl. Zur Unfallzeit im Jahr 2013 habe keine gesetzliche Helmpflicht für Radfahrer bestanden. Das Tragen von Fahrradhelmen habe zudem nicht dem allgemeinen Verkehrsbewusstsein entsprochen, was der BGH noch im Jahr 2014, bezogen auf einen Unfall aus dem Jahr 2011, festgestellt habe. Anhaltspunkte dafür, dass sich das Verkehrsbewusstsein insoweit in den Jahren danach verändert habe, habe der Senat nicht.
Der Mitverschuldensanteil der Kl. sei mit 1/3 zu bewerten. Dabei sei zu berücksichtigen, dass das der Kl. nach wie vor zustehende Vorfahrtsrecht kein Vertrauen ihrerseits in ein verkehrsgerechtes Verhalten des Bekl. habe begründen können. Auch wenn der Bekl. mit seinem Fahrzeug zunächst vor dem querenden Geh- und Radweg angehalten habe, habe die verkehrswidrig fahrende Kl. ohne weitere Anhaltspunkte nicht davon ausgehen dürfen, dass der Bekl. sie wahrgenommen habe und ihr den Vorgang einräumen würde.
OLG Hamm, Urteil vom 4.8.2017 (9 U 173/16)
Hinweis der Pressestelle:
Der 9. Zivilsenat des OLG Hamm hat auf das Urteil des BGH vom 17.6.2014 (VI ZR 281/13 – VersR 2014, 974) Bezug genommen. Nach der Entscheidung des BGH ist der Schadensersatzanspruch eines Radfahrers, der im Straßenverkehr bei einem Verkehrsunfall Kopfverletzungen erlitten hat, die durch das Tragen eines Schutzhelms zwar nicht verhindert, wohl aber hätten gemildert werden können, jedenfalls bei Unfallereignissen bis zum Jahr 2011 grundsätzlich nicht wegen Mitverschuldens gemindert.