I. Gruppenspitze als Versicherungsvermittler
Die Praxis kennt zahlreiche Gruppenversicherungsverträge, bei denen der Gruppenorganisator, die sog. Gruppenspitze, selbst Versicherungsnehmer (VN) ist. Beispielhaft sei der Fall genannt, dass eine GmbH ihren Kunden, wenn sie in eine „Mitgliedergemeinschaft“ eintreten, Leistungen für den Fall von Krankheit oder Unfall im Ausland anbietet und sie selbst VN eines Gruppenversicherungsvertrags mit entsprechenden Versicherungen ist (OLG Koblenz v. 19.12.2018 – 9 U 805/18, WRP 2019, 658). Nach bislang ganz h.M. lag in solchen Fällen keine Vermittlung vor, weil der VN nicht zugleich auch Vermittler sein könne (OLG Koblenz v. 19.12.2018 – 9 U 805/18, WRP 2019, 658; OLG Frankfurt v. 27.6.2019 – 6 U 108/18, NJW-RR 2019, 1381). Am 29.9.2022 entschied aber der EuGH auf Vorlage des BGH, Art. 2 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 8 Versicherungsvertriebs-Richtlinie seien so auszulegen, dass unter den Begriff „Versicherungsvermittler“ auch eine juristische Person falle, deren Tätigkeit darin besteht, eine freiwillige Mitgliedschaft in einer zuvor von ihr bei einer Versicherungsgesellschaft abgeschlossenen Gruppenversicherung anzubieten, wenn sie hierfür von ihren Kunden eine Vergütung erhält und die Mitgliedschaft die Kunden zur Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen, namentlich im Fall einer Erkrankung oder eines Unfalls im Ausland, berechtigt (EuGH v. 29.9.2022 – C-633/20, VersR 2022, 1372. Nachfolgend dann BGH v. 15.12.2022, VersR 2023, 446). Dass die juristische Person in diesen Fällen als VN selbst Partei des Gruppenversicherungsvertrags sei, stehe dem nicht entgegen. Ebenso wie ein Versicherer beim Direktvertrieb zugleich auch Versicherungsvertreiber sein könne, so könne auch der VN zugleich Versicherungsvermittler sein (EuGH v. 29.9.2022 – C-633/20, VersR 2022, 1372 Rz. 46 mit Hinweis auf EuGH v. 24.2.2022 – C-143/20 und C-213/20, VersR 2022, 485 Rz. 87 und 88).
Die Rechtsfolgen dieser EuGH-Entscheidung sind sehr weitreichend. Die vom Urteil betroffenen Gruppenspitzen benötigen danach eine Erlaubnis als Versicherungsvermittler i.S.d. § 34d Abs. 1 S. 1 GewO (BGH, VersR 2023, 446. In der Regel wird es eine Erlaubnis als Versicherungsvertreter nach § 34d Abs. 1 S. 2 Nr. 1 GewO sein. Denkbar ist aber auch eine Erlaubnisfreiheit für gebundene Vermittler gem. § 34d Abs. 7 S. 1 Nr. 1 GewO.) und sie haben umfassende Informationspflichten aus VVG und VersVermV (eingehend hierzu Fischer/Lübcke, BB 2022, 1538, 1544 ff.). Das Vermitteln ohne erforderliche Erlaubnis ist zudem nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 lit. k GewO ordnungswidrig. Wegen des Analogieverbots aus Art. 103 Abs. 2 GG ist eine Sanktion mittels einer Geldbuße indes nicht möglich. Als Folge der EuGH-Entscheidung muss daher der deutsche Gesetzgeber tätig werden.
Zu beachten ist aber: Nach dem EuGH-Urteil ist nicht jeder VN einer Gruppenversicherung ausnahmslos Versicherungsvermittler, nur weil er dafür sorgt, dass Personen unter Zahlung eines Betrags Mitglieder einer Gruppe werden und dadurch über eine von ihm abgeschlossene Gruppenversicherung Versicherungsschutz erhalten. (Wandt, VersR 2022, 1481 f.) Als Beispiel sei ein Amateursportverein genannt, der für seine Mitglieder eine Gruppenversicherung abgeschlossen hat und die Prämie hierfür aus den Mitgliedsbeiträgen bezahlt. Hier fehlt es an der nach der Richtlinie erforderlichen „Tätigkeit gegen Vergütung“.
II. Beratungspflichten der Versicherungsvermittler
Mehrere Entscheidungen im Berichtszeitraum hatten die Beratungspflicht des Versicherungsvertreters aus § 61 VVG zum Gegenstand.
Das OLG Saarbrücken hatte über eine Falschberatung in Zusammenhang mit einem Versichererwechsel zu entscheiden. (OLG Saarbrücken v. 24.11.2021 – 5 U 20/19, VersR 2022, 371.) Der Bekl., ein gebundener Versicherungsvertreter, hatte den Kl. zur Kündigung einer Berufsunfähigkeitsversicherung bei einem anderen Versicherer und dem Abschluss einer „Existenzschutzversicherung“ bei „seinem“ Versicherer geraten. Der Senat führt aus, bei einem Versichererwechsel und der Kündigung eines Vertrags in einem existenziell bedeutsamen Bereich, in dem der Versicherungsschutz wegen des Erfordernisses einer Gesundheitsprüfung nicht ohne weiteres erlangt werden könne, müsse der Vermittler bei seiner Aufklärung und Beratung gem. § 61 VVG hohe Anforderungen erfüllen. Ein VN wolle in dieser Situation weder eine Deckungslücke noch eine Verschlechterung seines Versicherungsschutzes hinnehmen. Im konkreten Fall hätte der Vermittler schon deshalb von der Kündigung der Berufsunfähigkeitsversicherung abraten müssen, weil der Kl. wegen seiner gerade erst überwundenen posttraumatischen Belastungsstörung keinen neuen Versicherungsschutz erhalten hätte.
Ein weiteres Urteil des OLG Saarbrücken erging zwar gegen den Versicherer, betraf aber die pflichtwidrige „Umdeckung“ durch einen Ausschließlichkeitsvertreter (OLG Saarbrücken v. 15.2.2023 – 5 U 36/22, VersR 2023, 425). Der VN hatte nach entsprechender Beratung durch den Vertreter im Jahr 2017 die Kündigung seiner alten Berufsunfähigkeitsversicherung erklärt, deren Wirksamkeit aber vom Zustandekommen der neuen Berufsunfähigkeitsversicherung beim selben Versicherer abhängig gemacht. Der Versicherer nahm den Aufhebungsantrag an und bestätigte dann die Kündigung der alten Versicherung. Im Jahr 2019 erklärte der Versicherer nach § 19 Abs. 2 VVG den Rücktritt vom neuen Versicherungsvertrag wegen Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflichten. Das LG hatte der Feststellungsklage, dass die alte Versicherung fortbestehe, stattgegeben. Das OLG wies die Berufung des Versicherers zurück. Die „Kündigung“ des VN sei als Angebot auf Abschluss eines Aufhebungsvertrags auszulegen, Dieses habe der Versicherer angenommen. Der Rücktritt vom neuen Vertrag habe daher auch den Aufhebungsvertrag erfasst, so dass der alte Versicherungsvertrag wieder aufgelebt sei. Unabhängig hiervon ist der Versicherer nach dem OLG auch unter dem Gesichtspunkt des Schadensersatzes verpflichtet, den VN so zu stellen, als bestünde der alte Versicherungsvertrag noch. Der Versicherer hätte den VN nämlich anlässlich der Umdeckung darauf aufmerksam machen müssen, dass die gewählte Art der Vertragsgestaltung den bestehenden Versicherungsschutz wegen der dann nachteiligen Folgen eines etwaigen Rücktritts stärker gefährdet als ein stattdessen in Betracht zu ziehender Aufhebungsvertrag. Wegen des unterlassenen Hinweises habe er ihn so zu stellen, als sei ein solcher Aufhebungsvertrag tatsächlich abgeschlossen worden.
Das OLG Karlsruhe hatte über die Beratungspflichten eines Versicherungsvertreters bei der Vermittlung einer Rürup-Rente zu entscheiden (OLG Karlsruhe v. 7.12.2021 – 9 U 97/19, VersR 2022, 237). Im konkreten Fall hatte der bekl. Versicherungsvertreter seine Beratungspflicht aus § 61 VVG gegenüber dem Kl. gleich in zweifacher Hinsicht verletzt. Erstens hatte er im Rahmen der Beratung nicht darauf hingewiesen, dass bei einer Rürup-Rente vor dem vereinbarten Rentenbeginn keine Möglichkeit bestehe, eine vorzeitige Auszahlung des angesparten Kapitals zu erhalten. Diese Besonderheit bei einer Rürup-Rente, die mit bestimmten Steuervorteilen zusammenhängt, ist für den VN eine grundlegende Information, über die er aufzuklären ist. Der zweite Beratungsfehler lag darin, dass der Bekl. den Abschluss einer Rürup-Rente empfohlen hatte. Dies war in Anbetracht der konkreten Situation des VN, der gerade ein Privatinsolvenzverfahren hinter sich hatte und am Beginn einer Selbstständigkeit mit geringfügigen Einkünften stand, ein eindeutig ungeeignetes Produkt. Der Versicherungsvertreter war daher nach § 63 VVG zum Ersatz des Schadens verpflichtet. Insoweit haftete auch der Versicherer nach § 278 BGB für die Verletzung der Pflicht aus § 6 Abs. 1 VVG nach § 6 Abs. 5 VVG auf Schadensersatz. Versicherer und Versicherungsvertreter waren Gesamtschuldner.
Das OLG Frankfurt hatte zu entscheiden, ob der Vermittler bei der Vermittlung einer Unfallversicherung dadurch fehlerhaft beraten hatte, dass er auf einen Risikoausschluss nicht hingewiesen hatte (OLG Frankfurt v. 13.5.2022 – 7 U 168/16, VersR 2022, 1091). In der Regel sei der Versicherungsvertreter zwar nicht verpflichtet, den VN darüber aufzuklären, dass in den AVB die Haftung für bestimmte Fälle ausgeschlossen sei. Wer eine Versicherung abschließe, müsse mit dem Bestehen von Risikoausschlüssen rechnen und sich über deren Inhalt und Umfang vergewissern. Dies gelte jedoch nicht, wenn der Versicherungsvertreter erkenne oder erkennen müsse, dass sich der Kunde über den Umfang der Versicherung irrige Vorstellungen macht. Dies war im vorliegenden Fall gegeben, weil der Kunde aktiver Grasbahnwagenrennen-Beifahrer war und darauf im Gespräch auch hingewiesen hatte. Daher hätte der Vertreter ihn auf den Deckungsausschluss nach Nr. 5.1.5 AUB 2008 hinweisen müssen. Insoweit hafte bei einem Strukturvertrieb der Hauptvertreter nach § 278 BGB auch für die Fehler seines Untervertreters.