Rezension: Private Berufsunfähigkeitsversicherung

Schriften, die einen der wichtigsten und zugleich komplexesten, juristische, medizinische und berufskundliche Kenntnisse verwebenden Versicherungsvertrag praxisgerecht darstellen, jenen zur Absicherung vor Berufsunfähigkeit, finden sich heute häufiger als vor 30 Jahren. Das neue, breit angelegte und tiefgründige Werk von Thomas Richter verdient dennoch ganz besondere Aufmerksamkeit. Denn seit genau 30 Jahren begleitet sein Autor mit seiner herausragenden anwaltlichen Expertise publizistisch die judikative – durchaus stürmisch zu nennende – Entwicklung dieses Rechtsgebiets und ist so gewissermaßen zu seinem Biografen und authentischen Interpreten geworden. Die treffende und zugleich bescheidene, die Fülle der eigenen Argumente zu Unrecht unter den Scheffel stellende Bezeichnung „Nach der Rechtsprechung“ wird der Sache dennoch in jeder Hinsicht gerecht. Richter stellt das forensische Material umfassend, keine wesentliche, für die Entwicklung und den Stand der Dinge maßgebliche Entscheidung übersehend zusammen, analysiert und systematisiert es nach strengen, den tatbestandlichen Elementen des Versicherungsfalls folgenden Kriterien, und unterwirft es immer wieder auch kritischer Betrachtung.

Nach formidablen, in ihrer Raffung beeindruckenden „Grundlegungen“, die die Dogmatik des Vertrags über eine Berufsunfähigkeitsversicherung gekonnt skizzieren (A und B), beschreibt Richter seinen Zweck zutreffend als Absicherung vor bestimmten Verlusten der (beruflichen) Funktionsfähigkeit und des (beruflichen) Status (C). Aus der Fülle einer jahrzehntelang Inhalt und Struktur dieses Versicherungsvertrags prägenden Rechtsprechung extrahiert er sodann fein ziselierend den Maßstab für die den Versicherungsfall auslösenden funktionellen Einbußen und seine ihn konkretisierenden Elemente (D, E), den Zeitpunkt seines Eintritts und die Voraussetzungen der Dauerhaftigkeit der Beeinträchtigungen (F, G, H), den beruflichen Bezug des Versicherungsfalls und dessen abgesicherte Ursachen (I, J, K), um nach Ausführungen zur Darlegung, zum Beweis (M) und zu dem Leistungsantrag (N) zu den Problemen des Anerkenntnisses (O, P) und der Nachprüfung zu gelangen. Schritt für Schritt, geleitet durch ausführlich das jeweilige Thema beschreibende Gliederungspunkte führt der Verfasser den Leser durch das Labyrinth der Auslegung des Gesetzes und der Bedingungswerke.

Besonders hervorzuheben ist, dass Richter sich nicht auf eine gewissermaßen statische, abstrakte normative Beschreibung der Berufsunfähigkeitsversicherung beschränkt, sondern ihre Probleme und Lösungen in den Prozess ihrer Entwicklung stellt: Darlegungsfragen und Beweisfragen, die Voraussetzungen, Reihenfolgen und Vorgaben des Zusammenwirkens von regulierender, anwaltlicher, richterlicher und sachverständiger Tätigkeit werden, getragen von profunder Erfahrung und anwaltlich-abwägender Argumentation dargestellt: Dass nicht (nur) die Dogmatik eines spezifischen Vertrags, sondern vor allem die rechtlich streng gesteuerte Pragmatik seiner forensischen Handhabung bedeutsam ist, wird zu Recht in Erinnerung gerufen. Und gerade dort, wo es in der Kommunikation mit der Medizin schwierig wird, werden Hinweise und Hilfen zur Verständigung im forensischen Alltag angeboten.

Thomas Richter behandelt nicht nur die „klassischen“ Fragen der Berufsunfähigkeitsversicherung. Aktuellen gewährt er den ihnen gebührenden Raum, wenn er, beispielsweise, auf die diffizilen Fragen des Berufswechsels vorsichtig differenzierend eingeht oder darauf hinweist, dass der Konflikt zwischen der Befugnis des Versicherers zu einem zeitlich begrenzten Anerkenntnis und seines Versprechens, Leistungen schon bei vermuteter Berufsunfähigkeit zu erbringen, nicht zulasten des VN gelöst werden darf, oder wenn er sich den Grenzen und Möglichkeiten der Befristung eines Anerkenntnisses oder der „außervertraglichen Vereinbarung“ widmet.

Auch wenn man Richter nicht in allen Punkten folgen mag – wenn er in Fällen krankheitsbedingter Berufsunfähigkeit während einer Arbeitslosigkeit offenbar grundsätzlich nicht an den letzten ausgeübten Beruf, sondern an den Status als arbeitslos anknüpfen will, die Absicherung einer nach Vertragsabschluss gewählten Tätigkeit der Hausarbeit dem Regime des Vertrags entzieht oder eine richterliche Abkürzung unangemessen langer Befristungen eines Anerkenntnisses für möglich hält –: Seine Argumente sind stets respektabel, legen den Streitstand offen und sind vor allem von dem beeindruckenden Bemühen zu einem abgewogenen Interessensausgleich zwischen Versicherern und Versicherten getragen.

Nach alledem: „Private Berufsunfähigkeitsversicherung – Nach der Rechtsprechung“ ist nicht nur ein wichtiger und gründlicher, geradezu enzyklopädischer Entscheidungsreport, sondern ein uneingeschränkt verlässliches, sachkundiges und hilfreiches Werk, das das nicht immer leicht erschließbare judikative Material präzise aufbereitet und würdigt. Thomas Richter zeichnet sich so mit seinem Werk als kluger Lotse im Angesicht der zahlreichen, zuweilen auch unsichtbaren Klippen und Untiefen der Regulierung und der anwaltlichen Beratung vor oder bei Führung eines Rechtsstreits um Leistungsbegehren aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung aus. Fazit: Außerordentlich empfehlenswert.

Prof. Dr. Roland Rixecker, Institut für Deutsches und Europäisches Privatversicherungsrecht der Universität des Saarlandes, Präsident des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes.

Private Berufsunfähigkeitsversicherung

Nach der Rechtsprechung

Von Thomas Richter

(VVW GmbH, Karlsruhe 2017, 480 S., kart., 170 x 240 mm, ISBN 978-3-89952-860-2, 79 Euro)