OLG Hamm: Überschreiten der Richtgeschwindigkeit muss keine Haftungsquote begründen

Verursacht ein vom rechten auf den linken Fahrstreifen einer Autobahn wechselnder Verkehrsteilnehmer einen Auffahrunfall, weil er den rückwärtigen Verkehr nicht beachtet, kann dem auffahrenden Verkehrsteilnehmer 100-%-iger Schadensersatz zustehen, auch wenn er die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h vor dem Zusammenstoß – maßvoll – überschritten hat. Unter Hinweis auf diese Rechtslage hat der 7. Senat des OLG das erstinstanzliche Urteil des LG Essen bestätigt.

Der Kl. nimmt den Bekl. und den Haftpflichtversicherer des Bekl. aus einem Verkehrsunfall auf Schadensersatz in Anspruch, der sich im Mai 2015 auf der BAB 31 ereignete. Der seinerzeit 30 Jahre alte Sohn des Kl. befuhr mit dessen Seat die linke Fahrspur und beabsichtigte, den auf der rechten Fahrspur mit seinem Dacia fahrenden, seinerzeit 45 Jahre alten Bekl. mit einer Geschwindigkeit von ca. 150 km/h zu überholen. Als sich das Fahrzeug des Kl. dem Fahrzeug des Bekl. bereits genähert hatte, wechselte dieser ohne ersichtlichen Grund und ohne Betätigen des Fahrtrichtungsanzeigers auf die linke Fahrspur. Es kam zum Auffahrunfall, weil der Sohn des Kl. das Fahrzeug nicht mehr rechtzeitig abbremsen und dem Fahrzeug des Bekl. auch nicht ausweichen konnte.

Den Ersatz des dem Kl. durch den Unfall entstandenen Schadens in Höhe von ca. 7640 Euro hat das LG dem Kl. in vollem Umfang zuerkannt. Der Bekl. habe den Unfall verschuldet, so das LG, weil er den Fahrstreifenwechsel nicht rechtzeitig und deutlich angekündigt und auch nicht so ausgeführt habe, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen gewesen sei. Dass der Sohn des Kl. den Unfall durch das Überschreiten der Richtgeschwindigkeit mitverursacht habe, rechtfertige aufgrund des groben Verschuldens des Bekl. keine Mithaftung des Kl.

Mit ihrer gegen das erstinstanzliche Urteil eingelegten Berufung haben die Bekl. geltend gemacht, das Überschreiten der Richtgeschwindigkeit durch den Sohn des Kl. habe die Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Kl. so erhöht, dass eine Mithaftung des Kl. in Höhe 25 % gerechtfertigt sei.

Der Argumentation der Bekl. hat sich der 7. Zivilsenat des OLG Hamm nicht angeschlossen. Nach seinem Hinweisbeschluss vom 21.12.2017 wies der Senat die Berufung mit Beschluss vom 8.2.2018 zurück.

Das Überschreiten der Richtgeschwindigkeit begründe im vorliegenden Fall keine Mithaftung des Kl., so der Senat. Dies folge aus der gebotenen Haftungsabwägung.

Den Bekl. treffe ein erhebliches Verschulden. Aus Unachtsamkeit und ohne den rückwärtigen Verkehr zu beobachten habe er sein Fahrzeug auf die linke Fahrspur herübergezogen.

Ein schuldhafter, den Unfall mitverursachender Verkehrsverstoß des Sohnes des Kl. sei demgegenüber nicht bewiesen. Bei der vor den beiden Fahrzeugen freien Autobahn habe er nicht mit einem plötzlichen Spurwechsel des Bekl. rechnen müssen. Eine Geschwindigkeitsbegrenzung sei auf dem Streckenabschnitt der BAB nicht angeordnet, die nach den Angaben des Sohnes des Kl. gefahrene Geschwindigkeit von 150 km/h sei mit den Straßen- und Sichtverhältnissen vereinbar gewesen. Eine höhere Geschwindigkeit des Fahrzeugs des Kl. sei nicht feststellbar.

Die damit aufseiten des Kl. zu berücksichtigende Betriebsgefahr seines Fahrzeugs falle aufgrund des erheblichen Verschuldens des Bekl. im Abwägungsverhältnis nicht mehr ins Gewicht. Aus der maßvollen Überschreitung der Richtgeschwindigkeit um 20 km/h habe sich keine Gefahrensituation für den vorausfahrenden Bekl. ergeben. Im Unfall habe sich die mit der Überschreitung der Richtgeschwindigkeit für einen vorausfahrenden Verkehrsteilnehmer häufig verbundene Gefahr, dass die Annäherungsgeschwindigkeit des rückwärtigen Verkehrs unterschätzt werde, nicht verwirklicht. Der Bekl. habe aus Unachtsamkeit und ohne den rückwärtigen Verkehr überhaupt zu beobachten einen ungewollten Fahrstreifenwechsel ausgeführt. In diesem Fall habe das Überschreiten der Richtgeschwindigkeit für den Bekl. nicht gefahrerhöhend gewirkt. Davon habe auch der Sohn des Kl. ausgehen dürfen. Er habe aufgrund der freien Autobahn darauf vertrauen dürfen, dass der Bekl. den rechten Fahrstreifen nicht grundlos verlasse.

OLG Hamm, Beschlüsse vom 21.12.2017 und 8.2.2018 (7 U 39/17)

(Pressemitteilung des OLG Hamm vom 8.3.2018)