In der Heft 4/21 rista bietet der DRB NRW (Bund der Richter und Staatsanwälte in Nordrhein-Westfalen) seinen Lesern in der Rubrik Beruf aktuell tatsächlich so etwas wie eine (ganz) kleine Richterschelte. Unter der Überschrift „Urteilsschelte andersherum“ erkennt der nicht genannte Verfasser (möglicherweise die Redaktion), dass es Urteile gibt, die den ZPO-Normen § 313 und § 540 nicht entsprechen und viel Überflüssiges enthalten. Der (die) Verfasser lassen durchblicken, dass dies öfter vorkommen soll.
Einleitend wird hingewiesen auf die Motivation „des Anwalts der Beklagten“, Berufung einzulegen, auf das Zitat „Vor Gericht und auf hoher See …“, wird es als verständlich angesehen, dass Urteile der ersten Instanz wohl (nur) auf Flüchtigkeitsfehlern beruhen und die Behauptung aufgestellt, dass Obergerichte bisweilen „nach langem Brüten“ schlauer sein sollen, als die untere Instanz. All dies gehört eher nicht zum Thema, es sei denn, der/die Verfasser zählen sich zu denen, deren Urteile „gescholten“ werden sollen, weil sie zu lang sind und Überflüssiges enthalten.
Richtig und wichtig ist allerdings der Hinweis, dass in den Entscheidungen aller Instanzen die Akten abgeschrieben werden. Insoweit ist das „Ende der Fahnenstange“ jedoch noch lange nicht erreicht. Die Digitalisierung eröffnet dem Richter ganz neue Möglichkeiten. Jetzt kann er mühelos aus Schriftsätzen und Urteilen „kopieren und einfügen“, so dass nichts mehr übersehen werden kann. Auch Zitate lassen sich heute wesentlich leichter einfügen, als früher, weil diese aus juris oder aus Beck-Kommentaren kopiert werden können. Wenn auch der letzte gedankenlos dokumentierende Richter diese Techniken beherrscht, kann dies Anlass zu einem weiteren Artikel von rista in Beruf aktuell werden.
Muss man diese Urteile wirklich schelten? Na und (?) möchte man fragen, die Hauptsache ist doch, dass das Urteil materiell richtig ist. Besser zu lang, aber sachgerecht, als zu kurz und falsch. Letztgenannte Urteile hat rista meines Wissens allerdings noch nie gerügt.
Statt überflüssige Ausführungen nur zu rügen, statt nur den Finger mahnend zu erheben, statt nur zu beklagen, dass Richter sich mit solchen Exzessen selbst darstellen wollen, hätte rista besser daran getan, nach Wegen zu suchen, um dem Missstand abzuhelfen.
Es ist in der Tat nicht so, dass Überflüssiges in Urteilen unschädlich wäre.
Die tatsächlich weit verbreitete Unsitte, wie ein Buchhalter alles zu dokumentieren, was die Akten hergeben, zeigt doch, dass der Verfasser des Urteils sein Handwerk nicht versteht und dass ein so arbeitender Kollege einfach nicht ausgelastet ist. Das gilt sowohl für Entscheidungen durch den Einzelrichter, als auch für solche des Spruchkörpers, wenn der Vorsitzende und ein beisitzender Richter mitwirken, die den Entwurf des Berichterstatters (wirklich? – beide?) pflichtgemäß lesen und durch ihre Unterschrift billigen. Ein Vorsitzender, aber auch jeder beisitzende Richter, sollte nach Beratung (und Belehrung) Überflüssiges streichen und den Berichterstatter auf diese Weise erziehen.
Es gibt aber auch weitere Möglichkeiten, auf sachgerecht formulierte Entscheidungen hinzuwirken.
Gerichtspräsidenten und die Mitglieder des Präsidiums eines Gerichts sollten sich im Rahmen der Geschäftsverteilung um Kollegen kümmern, die solche prozessordnungswidrigen Ergüsse verfassen. Ein Richter, der die Zeit hat, über mehrere Seiten Überflüssiges zu dokumentieren und der Spruchkörper, dem er angehört und der dies billigt, können nicht ausgelastet sein. Wenn dies bei der Geschäftsverteilung berücksichtigt würde, könnte das erzieherisch wirken.
Dennoch: mit solch schrecklichen Urteilen kann man zur Not leben, solange materiell-rechtlich zutreffend entschieden wird.
Wichtiger ist die Frage, warum sich die Standesvertretung rista nicht um die Vielzahl der Entscheidungen kümmert, die zu kurz begründet und deshalb oft auch falsch, jedenfalls nicht überzeugend sind?
Hier kann man angeblich nicht eingreifen, weil eine Urteilsschelte die richterliche Unabhängigkeit nicht nur tangieren, sondern verletzen soll. Wieso eigentlich?
Immer wieder gibt es Urteile, die Interessenvertretern, Anwälten oder Richterkollegen nicht gefallen und in Anmerkungen kommentiert und gegebenenfalls kritisiert werden. Das könnte auch in einer Verbandszeitschrift geschehen.
Hier könnte man z.B. darauf hinweisen, dass Entscheidungen zum Schmerzensgeld in aller Regel zur Höhe des Schmerzensgeldes keine Begründung enthalten, obwohl Ermessensentscheidungen begründet werden müssen. Wenn überhaupt nehmen solche Entscheidungen zur Begründung der Höhe des Schmerzensgeldes nur auf alte Entscheidungen Bezug oder verwenden Textbausteine, womit wir wieder bei der Dokumentation (per Mausklick) sind. Wenn das Judiz der beteiligten Richter stimmt, müssen diese Urteile ja nicht einmal materiellrechtlich falsch sein, aber eine ordnungsgemäße Begründung wäre für die unterlegene Partei schon hilfreich.
Deshalb die Bitte an alle, die Einfluss nehmen können, jede Gelegenheit zu ergreifen, auf gut begründete Urteile hinzuwirken, die nicht weitschweifig, aber auch nicht zu kurz begründet sind. Dazu können neben dem Berichterstatter der Vorsitzende und der beisitzende Richter ebenso beitragen, wie z.B. die Leitung des Gerichts und das Präsidium. Ob auch die Standesvertretung rista den Mut aufbringen wird, insoweit auf eine Verbesserung der Rechtsprechung durch ihre Mitglieder hinzuwirken?