Die Coronakrise hat die seit langem diskutierte Frage, ob bestimmte Ereignisse als Beginn des Versicherungsfalls einzustufen sind oder als eine zu sanktionierende Gefahrerhöhung, wiederbelebt. Heute antworten Jan Lüttringhaus und Florian Genz auf den VersR BLOG vom 30.9.2020 von Theo Langheid, der für eine Gefahrerhöhung plädierte.
Blickt man auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 zurück, so hat es sich – zum Glück – eher um ein einmaliges herausragendes Ereignis denn um einen gefahrerhöhenden „Quantensprung des Terrorismus“ (so aber Langheid, NVersZ 2002, 433) gehandelt. Ähnlich verhält es sich mit dem Coronavirus: Sein erstmaliges Auftreten bedeutet weder einen „Quantensprung der Pandemien“ noch eine objektive Gefahrerhöhung (so bereits Lüttringhaus/Genz, r+s 2020, 258; a.A. Langheid, VersR BLOG vom30.9.2020). Eine Gefahrerhöhung nach § 23 VVG setzt voraus, dass sich das Risiko des Schadenseintritts oder des drohenden Schadensumfangs in einer Weise vergrößert, die der Versicherer aufgrund der bei Vertragsabschluss verfügbaren Angaben nicht in die Kalkulation einbeziehen konnte und daher den Vertrag nicht oder zumindest nicht mit der vereinbarten Prämie abgeschlossen hätte. Diese nachträgliche Veränderung muss sich zunächst auf erhöhtem Niveau stabilisieren und darf nicht sofort in einen Versicherungsfall münden. Dabei muss die Änderung der Gefahrumstände so wesentlich sein, dass ein redlicher Versicherungsnehmer nicht i.S.d. § 27 VVG erwarten kann, dass diese mitversichert sind.
Anders als Langheid in seinem Blog-Beitrag meint, lässt sich unter solchen Vorzeichen keine (nicht mitversicherte) objektive Gefahrerhöhung durch das Coronavirus begründen: Mit dem Coronavirus realisiert sich zum einen die stets omnipräsente Gefahr, die von Krankheiten im Allgemeinen und von Pandemien im Besonderen ausgeht. Diese Grundgefahr war auch bei Vertragsschluss angesichts der virologischen Erfahrungen in der Vergangenheit hinlänglich bekannt: Neben SARS, MERS und anderen sei als besonders einschneidendes Ereignis hier nur die Spanische Grippe mit bis zu 50 Mio. Toten – also dem mehr als 50fachen des Coronavirus – genannt. Dieses kaum 100 Jahre zurückliegende Grippe-Szenario stand auch Pate für das Pandemie- und Katastrophen-Risikomodul im Solvency-II-System (vgl. nur Art. 163, Art. 135 i.V.m. Anhang XII VO (EU) 2015/35). Zumindest insoweit müssen Pandemien also schon qua Aufsichtsrecht bei der Risikomodellierung berücksichtigt werden. Allein vor diesem Hintergrund dürfte keinem Versicherer dieses Risiko und das damit im Eintrittsfall verbundene verheerende Schadenspotential verborgen bleiben. Die Versicherer konnten und mussten solche Szenarien bei der Kalkulation also grundsätzlich mitberücksichtigen.
Hinzu kommt, dass das Auftauchen des Coronavirus in der Veranstaltungsausfallversicherung unmittelbar zum Eintritt des Versicherungsfalls führt, sobald deshalb die Absage der Veranstaltung erfolgt. Von der für eine Gefahrerhöhung erforderlichen „Stabilisierung auf erhöhtem Gefahrniveau“ kann hier keine Rede sein. Wenig aussichtsreich ist deshalb auch der Vorschlag, die Gefahrerhöhung insgesamt nicht auf das Pandemiegeschehen selbst, sondern vielmehr auf die staatlichen Reaktionen – also auf Schließungsanordnungen und/oder einen allgemeinen „Lockdown“ – zu stützen. Zum einen darf man bezweifeln, dass die administrative Reaktion auf die Pandemie wirklich als „unerwartetes Phänomen“ gelten kann. Zum anderen wäre bei dieser Lesart erst recht keinerlei Abgrenzung mehr zwischen der vermeintlichen Gefahrerhöhung einerseits und dem versicherten Kausalereignis andererseits möglich. Gerade die derzeit viel diskutierte Betriebsschließungsversicherung (BSV) knüpft an eine öffentlich-rechtlich veranlasste Betriebsschließung an. Dieser Hoheitsakt selbst kann niemals Gefahrerhöhung, sondern immer nur den Eintritt des Versicherungsfalls darstellen.
Soweit Langheid einen Vergleich zur spontanen vorvertraglichen Anzeigepflicht ziehen möchte, spricht auch diese Überlegung bei näherer Betrachtung gegen eine Gefahrerhöhung: Denn die Rechte des Versicherers sind bei der Verletzung von Anzeigepflichten nach § 19 Abs. 5 S. 1 VVG stets ausgeschlossen, wenn der Versicherer den nicht angezeigten Gefahrumstand kannte. Genau so liegt der Fall beim erstmaligen Auftreten des Coronavirus, da der Versicherungsnehmer hier über keinerlei Wissensvorsprung gegenüber dem Versicherer verfügt (ebenso Armbrüster, r+s 2020, 506 [509]).
Auch der sodann von Langheid ausgeworfene argumentative Rettungsring, dass Versicherer durch die Leistungspflicht schlicht überfordert seien, gibt wenig Auftrieb: Zugegebenermaßen haben Versicherer insbesondere das Nischenprodukt BSV lange Zeit eher stiefmütterlich behandelt und – trotz grundsätzlicher Möglichkeit – vielleicht nicht immer risikoadäquate Prämien kalkuliert. Ein solches Versäumnis begründet aber weder eine Gefahrerhöhung, noch befreit es die Versicherer von ihrer Leistungspflicht. Abgesehen davon legen manche Gerichtsentscheidungen sowie der „Bayerische Kompromiss“ nahe, dass beileibe nicht jeder Vertrag schadensbelastet sein wird, und es daher auch nicht zum von Langheid angesprochenen „Total-Totalschaden“ des gesamten Bestands kommt, zumal in den Fällen grundsätzlicher Leistungspflicht eine Limitierung auf eine Ausfallzeit von maximal 30 Tagen gängig ist. Stellt man die vergleichsweise geringe Zahl an BSV und die Rückversicherung in die Betrachtung ein, dürfte kein Versicherer ernstlich in Bedrängnis geraten. Abgesehen davon ist die Gefahrerhöhung ohnehin kein Instrument zur nachträglichen Korrektur mangelnder kalkulatorischer Sorgfalt.
Der Ausflug in das Verfassungsrecht führt insoweit zu keinem anderen Ergebnis: Die vom BVerfG (VersR 2006, 489) herausgearbeiteten Grundsätze betreffen den zu gewährleistenden Schutz von Vermögensinteressen des Kollektivs im Rahmen kapitalbildender Lebensversicherungen. Bei der BSV existiert eine solche Kapitalbildung zu Gunsten der VN nicht. Vielmehr erhöhen versicherungstechnische Gewinne in der Kompositversicherung den Jahresüberschuss des Versicherers. Umgekehrt gehen fehlerhafte Kalkulationsannahmen sowie die unklare bis ungeschickte Gestaltung der AVB und alle daraus folgenden finanziellen Belastungen nun einmal zu Lasten der Versicherer.
Eine völlig andere Frage ist, ob die Versicherer die Risiken – etwa in der BSV – im Wissen um die kommende Pandemie übernommen hätten. Um das klar zu verneinen, ruft Langheid die Herren Churchill und Kennedy in den Zeugenstand, die wohl fraglos andere Entscheidungen getroffen hätten, wenn sie die Niederlage auf den Dardanellen und die tödlichen Schüsse in Dallas vorausgesehen hätten. Nur liegt der Einwand nahe, dass dieser Vergleich hinkt wie dereinst John Wilkes Booth: Die Gefahrerhöhung dient nun einmal nicht dazu, sich bei einer ungünstigen Risikoentwicklung nachträglich der eigenen Leistungspflicht mit dem Argument zu begeben, dass man in Kenntnis dieser Entwicklung das Risiko ja nie übernommen hätte. Indes verdeutlichen die Beispiele das Wesen stets allgegenwärtiger und von den Herren Kennedy und Churchill auch jeweils sehenden Auges übernommener Gefahren: So reißt die Reihe tödlicher Attentate auf US-Präsidenten nicht ab, seit Abraham Lincoln durch Herrn Booth kaltblütig erschossen wurde (wobei sich letzterer immerhin das Bein brach). Ebenso sind militärische Niederlagen des Empire – man denke nur an den Freiheitskampf der USA – historisch zahlreich überliefert. Kurzum: Attentate auf Politiker und verlorene Schlachten im Krieg sind allseits bekannte Gefahren, die stets mitgedacht werden können und auch müssen. Das haben diese Ereignisse also durchaus mit einer Pandemie gemein. Hier wie dort erhöht und stabilisiert sich zudem auch kein bis dahin unerkennbares Risiko des Schadeneintritts oder des Schadensumfangs, sondern es realisiert sich vielmehr ein bekanntes und kalkulierbares Risiko direkt im Schadensfall/präsidialen Tod/militärischen Desaster.
Doch zurück zum Thema: Wer als Versicherer Risiken begrenzen will, muss klare Deckungskonzepte schaffen und Pandemierisiken ggfs. vollständig und transparent vom Deckungsschutz ausschließen. Was ein Versicherer nicht versichern kann, dass sollte er nicht in Deckung nehmen. Auch für nicht versicherbare Risiken lassen sich sodann Wege finden: Im Fall von Terrorismusrisiken steht bekanntlich die Extremus AG bereit. Bei Pandemierisiken mag zukünftig eine kapitalmarktbasierte Lösung z.B. in Form von „Pandemic-Cat-Bonds“ und/oder eine „Public Private Partnership“ Abhilfe schaffen.
Ganz zum Schluss verdient der Langheid’sche Beitrag in einem Punkt Zustimmung: Das Corona-Pandemiegeschehen mag künftig in der Tat vermehrt Anlass zu subjektiven Gefahrerhöhungen geben: Zu denken ist an Versicherungsnehmer, die – durch Missachtung von Corona-Auflagen – eine solche Gefahrerhöhung herbeiführen, indem sie z.B. als Gewerbetreibende trotz Lockdown ihren Betrieb öffnen oder Abstandsgebote, Dokumentationspflichten oder Hygienekonzepte nicht einhalten und so das versicherte Risiko gerade aufgrund drohender Corona-Infektionen steigern (dazu Genz, VersR 2020 [im Erscheinen]). Hier bleibt durchaus Raum für §§ 23 Abs. 1, 24 Abs. 1, 25 Abs. 1 VVG sowie eine Leistungsfreiheit gem. § 26 Abs. 1 VVG. Das ist aber wohlgemerkt keine objektive Gefahrerhöhung durch das Auftreten des Coronavirus, sondern eine subjektive, strikt verhaltensgebundene Gefahrerhöhung durch den Versicherungsnehmer.