BGH: Kein Schadensersatz- oder Entschädigungsanspruch aus Amtshaftung oder enteignungsgleichem bzw. enteignendem Eingriff bei vertretbarer Beschlagnahme von Presseerzeugnissen („Zeitungszeugen“)

Der III. Zivilsenat des BGH hat sich am 15. 12. 2016 in einer Entscheidung mit der Frage befasst, ob die Beschlagnahme von Presseerzeugnissen, der eine vertretbare Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen durch die Staatsanwaltschaft und den Ermittlungsrichter zugrunde liegt, Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche zur Folge haben kann.

Sachverhalt

Der Kl., der geschäftsführender Gesellschafter eines in Großbritannien ansässigen Presseunternehmens ist, machte gegen das bekl. Land aus eigenem und abgetretenem Recht Ersatzansprüche in Höhe von 2.634.677,52 Euro im Zusammenhang mit der Beschlagnahme von Presseerzeugnissen geltend.

Das Unternehmen vertrieb in Deutschland ab Januar 2009 das wöchentlich erscheinende Journal „Zeitungszeugen“, dessen Herausgeber der Kl. ist und das sich mit der Zeit des Nationalsozialismus und der damaligen Presselandschaft befasste. Den einzelnen Ausgaben waren jeweils zwei bis drei Faksimilenachdrucke von Zeitungen eines ausgewählten Tages beigelegt. Diese Nachdrucke waren in einen vierseitigen Zeitungsmantel eingelegt, der (kurze) historische Abhandlungen zu den jeweiligen Zeitungsausgaben enthielt. Zum Teil wurden auch großformatige NS-Propaganda-Plakate beigefügt.

Die Staatsanwaltschaft leitete am 23. 1. 2009 ein Ermittlungsverfahren gegen den Kl. wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86 a StGB) und Verstößen gegen das Urheberrecht (§§ 106, 109 UrhG) ein und beantragte beim AG den Erlass eines Beschlagnahmebeschlusses. Dieser wurde noch am selben Tag erlassen, wobei die Beschlagnahme auf die Beilagen „Völkischer Beobachter“ vom 1. 3. 1933 und das NS-Propagandaplakat „Der Reichstag in Flammen“ beschränkt wurde. In der Folgezeit wurden bundesweit ca. 12.000 vollständige Exemplare der Ausgabe 2/2009 des Journals beschlagnahmt.

Auf die Beschwerde des Kl. hob die Staatsschutzkammer des LG die Beschlagnahmeanordnung auf, da die durchgeführten Ermittlungen keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte im Sinne eines Anfangsverdachts für ein strafbares Verhalten des Kl. ergeben hätten. Ein etwaiges Urheberrecht des Bekl. sei längstens nach 70 Jahren ab dem Erscheinen der Ausgabe des „Völkischen Beobachters“ vom 1. 3. 1933 abgelaufen. Es bestehe auch kein Verdacht, dass Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (Hakenkreuze) in strafbarer Weise verwendet oder verbreitet worden seien. Jedenfalls könne sich der Kl. auf die Sozialadäquanzklausel des § 86 Abs. 3 StGB berufen, da er nach den bisherigen Erkenntnissen mit der Publikation das Ziel staatsbürgerlicher Aufklärung verfolge. Das Ermittlungsverfahren gegen den Kl. wurde sodann gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

Prozessverlauf:

Das LG hat dem Kl. – gestützt auf einen an ihn abgetretenen Anspruch des Unternehmens aus enteignendem Eingriff – eine Entschädigung dem Grunde nach zugesprochen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Kl. ihr Klagebegehren weiter. Die dagegen gerichteten Berufungen des Kl. und des Bekl. waren erfolglos. Das OLG hat lediglich den Tenor des erstinstanzlichen Urteils dahin gehend abgeändert, dass die dem Kl. dem Grunde nach zugesprochene Entschädigung auf enteignungsgleichem Eingriff aus abgetretenem Recht der Albertas Ltd. beruhe. Im Übrigen hat es die Klage hinsichtlich der geltend gemachten Ansprüche nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen sowie aus Amtspflichtverletzung, Aufopferung und enteignendem Eingriff abgewiesen. Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision möchte der Beklagte die vollständige Abweisung der Klage erreichen.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der u. a. für das Staatshaftungsrecht zuständige III. Zivilsenat des BGH hat auf der Grundlage seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden, dass der Kl. weder aus eigenem noch abgetretenem Recht einen Anspruch auf Schadensersatz oder Entschädigung hat.

Staatsanwaltschaft und Ermittlungsrichter haben sich bei Beantragung bzw. Erlass der Beschlagnahmeanordnung nicht amtspflichtwidrig (§ 839 Abs. 1 S. 1 BGB i. V. m. Art. 34 S. 1 GG) verhalten. Im Ermittlungsverfahren getroffene staatsanwaltschaftliche und richterliche Maßnahmen, bei denen ein Beurteilungsspielraum des Entscheidungsträgers besteht (z. B. Haftbefehle, Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnungen) sind im Amtshaftungsprozess nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit zu überprüfen. Die Vertretbarkeit darf nur dann verneint werden, wenn bei voller Würdigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege die betreffende Entscheidung nicht mehr verständlich ist. Nach diesen Maßgaben war die Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft und des Ermittlungsrichters – auch unter dem Blickwinkel der Verhältnismäßigkeit der Beschlagnahmeanordnung – vertretbar. Bei der Prüfung des nach § 111 m StPO erforderlichen Tatverdachts durfte insbesondere auf die leichte Trennbarkeit der Beilagen (NS-Presseerzeugnisse) von dem sogenannten Zeitungsmantel (mit Erläuterungstexten) sowie den Umstand abgestellt werden, dass die inhaltliche Distanzierung des Kl. von dem in den Beilagen abgedruckten nationalsozialistischen Gedankengut unscheinbar platziert war, während Hakenkreuze und das beigefügte großformatige NS-Propagandaplakat  markant in Erscheinung traten (Verdacht einer Straftat nach § 86 a StGB). Angesichts der äußerst komplexen und komplizierten Sach- und Rechtslage und der Notwendigkeit einer Eilentscheidung war es vertretbar, hinsichtlich der Ausgabe des „Völkischen Beobachters“ vom 1. 3. 1933 den (starken) Anfangsverdacht einer Verletzung des dem Bekl. zustehenden Urheberrechts zu bejahen (Strafbarkeit nach § 106 Abs. 1 UrhG).

Die im Zusammenhang mit der Überprüfung von staatsanwaltschaftlichen und richterlichen Maßnahmen im Ermittlungsverfahren entwickelten Grundsätze zur Vertretbarkeit der Maßnahme gelten auch für die Beurteilung von Ansprüchen aus enteignungsgleichem Eingriff. Dies bedeutet im vorliegenden Fall, dass die Bejahung einer vertretbaren Maßnahme nicht nur dazu führt, dass eine Amtspflichtverletzung (bereits auf der Tatbestandsebene) entfällt, sondern auch dazu, dass die Rechtswidrigkeit des Eingriffs als Voraussetzung einer Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff zu verneinen ist.

Ein Anspruch aus enteignendem Eingriff, wie ihn das LG angenommen hat, scheidet ebenfalls aus, da das Presseunternehmen durch den Vollzug der Beschlagnahmeanordnung kein unzumutbares Sonderopfer erlitten hat. Das Eingreifen der Strafverfolgungsbehörden ist durch das riskante Verhalten des Kl. veranlasst worden. Dieser hat sich als geschäftsführender Gesellschafter und Verantwortlicher i. S. d. § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB bewusst für eine „grenzwertige“ Veröffentlichung des Journals „Zeitungszeugen“ entschieden. Da das Unternehmen sich das Verhalten seines Organs zurechnen lassen muss, kann es sich nicht darauf berufen, ihm sei ein unzumutbares Sonderopfer für die Allgemeinheit abverlangt worden.

BGH, Urteil vom 15. 12. 2016 (III ZR 387/14)

(Pressemitteilung des BGH Nr. 230/16 vom 15. 12. 2016)