Die Techniker Krankenkasse ist nicht verpflichtet, der Mutter eines Säuglings die Behandlungskosten von 4360 Euro für eine telemedizinische Therapie zur Entwöhnung von der Ernährung durch eine Sonde zu erstatten. Ein Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung besteht nicht, weil es sich um eine neuartige Behandlungsmethode handelt, die vom zuständigen Gemeinsamen Bundesausschuss noch nicht geprüft und anerkannt worden ist.
Zum Hintergrund:
Im Zuge technischer Neuerungen gibt es immer mehr Behandlungsmethoden, bei denen der direkte Kontakt zwischen Arzt und Patient durch internetbasierten Austausch ersetzt wird (Stichwort „Telemedizin“ oder „Cybervisite“). In Betracht kommen z.B. Untersuchungen und Beratungen mittels Videotechnik oder per E-Mail. Seit April dieses Jahres ist zwar die Videosprechstunde im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung in eng begrenzten Fällen als ergänzende Behandlungsmethode zugelassen. Andere Formen der Telemedizin sind hingegen noch nicht anerkannt worden. Die Entscheidung, ob eine neue Untersuchungs- oder Behandlungsmethode Bestandteil des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung ist, obliegt dem Gemeinsamen Bundesausschuss. Dieser ist das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland.
Zum Fall:
Der im September 2015 geborene Kl. ist über seine Mutter bei der Techniker Krankenkasse familienversichert. Er wurde mit einer Fehlbildung der Speiseröhre geboren, die nach mehreren komplizierten Operationen schließlich erfolgreich behandelt werden konnte. In diesem Zusammenhang war er über längere Zeit mittels einer Sonde ernährt worden. Auf die Umstellung zu normaler Nahrungsaufnahme reagierte der Kl. mit Würgereiz und Erbrechen.
Ab November 2016 führte die Mutter mit dem Kl. deshalb ein von der Universität Graz entwickeltes telemedizinisches Sonden-Entwöhnungsprogramm durch. Inhalt dieses „Netcoaching“ ist eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung der betroffenen Familien durch ein Team aus Ärzten und Therapeuten auf telemedizinischem Wege. Der Patient bleibt dabei zuhause, die Betreuung erfolgt durch Videoanalysen, tägliche Cybervisiten und Beratungen per E-Mail.
Die von den Großeltern des Kl. vorgestreckten Kosten für die am Ende erfolgreiche Sondenentwöhnung betrugen insgesamt 4360 Euro. Die bekl. Techniker Krankenkasse lehnte die Übernahme dieser Kosten mit der Begründung ab, dass der Gemeinsame Bundesausschuss für diese Behandlungsmethode noch keine positive Empfehlung ausgesprochen habe und es andere, bereits anerkannte Behandlungsmethoden gebe.
Hiergegen erhob der Kl., vertreten durch seine Mutter, im April 2017 Klage vor dem SG Berlin. Ihrer Meinung nach war die telemedizinische Behandlung im häuslichen Umfeld die beste und auch kostengünstigste Lösung. Ein weiterer Klinikaufenthalt hätte den Kl. sowohl psychisch erheblich belastet als auch großer Ansteckungsgefahr ausgesetzt.
Das SG Berlin wies die Klage ab und bestätigte die Auffassung der bekl. Krankenkasse.
Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt:
Die gesetzlichen Krankenversicherungen seien nicht schon dann leistungspflichtig, wenn eine begehrte Therapie nach Einschätzung des Versicherten oder eines Arztes zu befürworten sei. Vielmehr müsse die Therapie Teil des Leistungskatalogs des Versicherers sein. Die Aufgabe, den Nutzen und die Risiken einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode zu bewerten und gegeneinander abzuwägen, sei dabei vom Gesetzgeber allein dem Gemeinsamen Bundesausschuss zugewiesen worden. Bei dem vorliegend umstrittenen Netcoaching handele es sich um eine neue Behandlungsmethode, für die die erforderliche Anerkennung noch nicht vorliege. Prägend für das Netcoaching sei, dass die eigentliche Behandlung (die Sondenentwöhnung) durch die Eltern durchgeführt werde und von Ärzten und anderem medizinischen Fachpersonal nur unter Einsatz moderner Kommunikationsmittel angeleitet und überwacht werde. Dies habe zwar den Vorteil, dass die Behandlung im häuslichen Umfeld erfolge und sicher auch deutlich preiswerter sei als ein Krankenhausaufenthalt. Andererseits gebe es Risiken, weil die Ärzte den Patienten nicht selbst untersuchten und bei etwaigen Komplikationen auch nicht sofort einschreiten könnten.
Einer der Fälle, in denen eine positive Empfehlung des Bundesausschusses ausnahmsweise nicht erforderlich sei, habe nicht vorgelegen. So gebe es keine Anhaltspunkte dafür, dass die fehlende Anerkennung auf einem Systemversagen beruhe, etwa weil das Zulassungsverfahren nicht ordnungsgemäß betrieben worden sei. Es habe sich auch nicht um eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung des Kl. gehandelt. Mit der stationären Sondenentwöhnung habe zudem eine allgemein anerkannte Behandlungsalternative zur Verfügung gestanden.
SG Berlin vom 11.7.2017 (S 81 KR 719/17)