Digitalisierung Fehlanzeige!

Zur Online-Recherche nach Schmerzensgeld-Präjudizen

VersR-Bloggerin Ina Ebert hat in ihrem Beitrag vom 15.12.2020 das Schmerzensgeld als schillernde Allzweckwaffe, als Spiegel des Zeitgeists bezeichnet, eine Aussage, die man sofort unterschreiben möchte, wäre da nicht die bedrückende Erkenntnis, dass Anwälte und Richter bei der Geltendmachung und Zuerkennung von Schmerzensgeld in der Anfangszeit des BGB, jedenfalls im analogen Zeitalter stecken geblieben sind.

Digitalisierung ist das Stichwort des 21. Jahrhunderts und alle Lebensbereiche sind gezwungen, sie zu nutzen. Kaum ein Rechtsgebiet eignet sich besser, aus der Digitalisierung Nutzen zu ziehen, als das Schmerzensgeld. Der BGH hat immer wieder gefordert, dass die Bemessung des Schmerzensgelds unter Berücksichtigung vergleichbarer Entscheidungen erfolgen muss. Dazu benötigt man Suchmaschinen. Was hindert also die Rechtsanwender daran, sich an den Computer zu setzen und in Dateien nach vergleichbaren Entscheidungen zu suchen? Ein Phänomen, niemand steht der Digitalisierung ferner als Anwälte und Richter. Sie suchen nicht, weder digital noch analog.

Ein negatives Beispiel ist z.B. eine Entscheidung des OLG Celle (Urt. v. 4.11.2020 – 14 U 81/20, MDR 2021, 98), das die Höhe des Schmerzensgelds zu bemessen hatte, das den Erben einer Frau zufließen sollte, die zwölf Tage nach einem Verkehrsunfall unfallbedingt Hirninfarkte erlitt und nach vier Monaten verstarb, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Das LG hatte das Schmerzensgeld mit 55.000 € bemessen, dem Versicherer war der Betrag zu hoch, das OLG Celle erkannte auf 30.000 €.

Wie war das mit den vergleichbaren Entscheidungen?

Der Anwalt der Kläger hatte auf vergleichbare Entscheidungen Bezug genommen, die entweder nicht vergleichbar oder rd. 20 Jahre alt waren. Der Senat fand mehrere, ebenfalls rd. 20 Jahre alte Entscheidungen, die er als vergleichbar bezeichnete, die aber bis auf eine nicht vergleichbar waren. Die vergleichbare Entscheidung gewährte ein (indexiertes) Schmerzensgeld von fast 35.000 €, ein Betrag, den der Senat ohne Begründung nicht übernahm. Hätte er sie als vergleichbar akzeptiert, hätten die Erben wenigstens etwas mehr bekommen.

Keiner der Prozessbeteiligten kam auf den Gedanken, dass in den Vergleichsverfahren, die den alten Entscheidungen zugrunde lagen, nur Entscheidungen erörtert worden sein konnten, die ihrerseits wiederum 10 bis 20 Jahre zurücklagen, dass es also um Vorstellungen von der Höhe des Schmerzensgelds aus einer Zeit ging, die mit den Vorstellungen der Gegenwart nichts mehr zu tun haben konnten. Es sollte allgemein bekannt sein, dass angeblich vergleichbare Entscheidungen, die fast 20 Jahre alt sind, die Rechtsprechung wiedergeben, die so alt ist, dass sie nicht mehr zur Begründung der Höhe des Schmerzensgelds herangezogen werden darf, weil sie einfach nicht mehr vergleichbar sind.

Eine Online-Recherche in den einschlägigen Schmerzensgeldtabellen (Slizyk, Schmerzensgeldtabelle, 16. Aufl. = Beck-online.schmerzensgeld; Hacks/Wellner/Häcker, 39. Aufl. 2021, www.schmerzensgeld.online; Jaeger/Luckey, Schmerzensgeld, [demnächst] 11. Aufl., wolters kluwer.schmerzensgeldassistent) hätte ein anderes Bild ergeben. Zwar hat das OLG Celle ausdrücklich behauptet, der Senat habe die Rechtsprechung „gesichtet“, was nicht zutreffen kann.

Jaeger/Luckey (10. Aufl. 2020) weisen unter E2148 ff. mindestens zwei wirklich einschlägige Entscheidungen nach. Eine Recherche bei Hacks/Wellner/Häcker und bei Slizyk, aus den letzteren Schmerzensgeldtabellenwerken zitiert der Senat, hätten dasselbe Ergebnis gehabt.

Eine Recherche bei juris wäre ausnahmsweise nicht erfolgreich gewesen, ein Versuch, die beiden in den Printversionen genannten Entscheidungen über die hier einschlägigen Stichworte zu finden, schlug fehl.

Dennoch, alle Schmerzensgeldtabellen stehen online, wenige Minuten hätten gereicht, wirklich vergleichbare Entscheidungen zu finden, ohne in den dem Senat vorliegenden Schmerzensgeldtabellen nachzuschlagen, was offenbar zu hohe Anforderungen stellte. Die Richter hätte nur etwas weiter blättern müssen.

Nur am Rande sei noch erwähnt, dass die Digitalisierung dem Senat auch nicht bei der (falschen) Kostenentscheidung geholfen hätte. Die Bestimmung des § 92 Abs. 2 Nr. 2 ZPO muss ein Richter schon kennen, wenn er dem Kläger die vom Gesetz vorgesehene Wohltat zukommen lassen will.

Anwälte müssen diese Bestimmung ebenfalls kennen und in jeder Klageschrift zum Schmerzensgeld, in der sie ein angemessenes Schmerzensgeld, also keinen festen Betrag, fordern, dessen Höhe sie in das Ermessen des Gerichts stellen, auf § 92 Abs. 2 Nr. 2 ZPO hinweisen, damit das Gericht eine zutreffende Kostenentscheidung trifft, und der Anwalt nicht regresspflichtig wird. Was aber, wenn (fast) kein Anwalt oder Richter die Bestimmung des § 92 Abs. 2 Nr. 2 ZPO kennt, wer sollte den Anwalt in Regress nehmen?