Unter der Überschrift „Grenzen der Leistungspflicht des privaten Krankenversicherers – Versicherungsfall, Übermaßbehandlung und Übermaßvergütung“ hat Marcel Straub in der bekannten Frankfurter Reihe eine bemerkenswerte Dissertation veröffentlicht, die sowohl für den Praktiker als auch für die juristische Meinungsbildung von besonderer Relevanz ist. Die Dissertation ist im Jahr 2018 erschienen und umfasst 333 S. im DIN-A5-Format.
Einleitend wird der in der privaten Krankenversicherung (PKV) übliche Begriff des Versicherungsfalls anhand einer auch dogmatisch vertieften Betrachtung der § 192 Abs.1 VVG und § 1 MBKK erläutert. Dies schließt die nähere Betrachtung der Merkmale „Krankheit“, „Unfall“ und „Heilbehandlung“ unter Berücksichtigung der hierzu ergangenen umfangreichen Rechtsprechung ein. Ausführlich geht der Autor sodann auf den in der PKV wichtigen Begriff des „gedehnten Versicherungsfalls“ ein: Sowohl dessen Beginn als auch dessen Ende werden im Einzelnen untersucht und interpretiert. Die gängige Aussage, dass allein eine Unterbrechung der Behandlung nicht zur Beendigung des Versicherungsfalls führt, wird bestätigt.
Kritisch würdigt Straub die Wirksamkeit des in § 2 Abs.1 S. 2 MBKK enthaltenen Leistungsausschlusses für Versicherungsfälle, die vor Beginn des Versicherungsschutzes eingetreten sind. Er bejaht zwar den Charakter der Klausel als primäre Risikobegrenzung ebenso wie deren Transparenz, sieht in ihr jedoch eine inhaltliche Abweichung von wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung: Der Leistungsausschluss tangiere die in § 193 Abs.3 VVG normierte generelle Versicherungspflicht in der Krankenversicherung und erschwere das mit der VVG-Reform 2007 eingeführte Wechselrecht zwischen den Versicherern der PKV.
Dem ist entgegenzuhalten, dass der Gesetzgeber die Einzelheiten sowohl der Versicherungspflicht als auch des Wechselrechts in den §§ 193 Abs.3, 204 Abs.1 Nr.2 VVG und §§ 146 Abs.1 Nr.5 sowie 152 VAG abschließend geregelt hat. Demnach hat jeder VN einen Anspruch auf Aufnahme im Basistarif. Eine Versicherung im Basistarif reicht aus, um der Versicherungspflicht zu entsprechen. Der Basistarif sieht gem. § 2 Abs.1 S.2 MBBT aber einen Versicherungsschutz auch für Versicherungsfälle vor, die vor Abschluss des Vertrags eingetreten sind. Der VN ist damit hinreichend geschützt.
Wechselt der VN den Versicherer, begrenzt der Gesetzgeber seine Rechte auf einen Anspruch auf Mitgabe des „Übertragungswerts“ und (unter bestimmten Voraussetzungen) den Abschluss einer Zusatzversicherung beim bisherigen Unternehmen.
Der wichtigste versicherungsrechtliche Grundsatz, dass eine Versicherung nur gegen den ungewissen Eintritt eines Ereignisses abgeschlossen werden kann, muss dagegen erhalten bleiben. Ein „brennendes Haus“ ist nicht versicherbar. Aus diesem Grund hat auch die höchstrichterliche Rechtsprechung die Wirksamkeit des § 2 MBKK stets bejaht (Vgl. nur die Hinweise von Kalis in Sodan, Handbuch des Krankenversicherungsrechts 3. Aufl. § 44 Rn. 133).
Entsprechend der Bedeutung in der täglichen Praxis befasst sich Straub des Weiteren mit dem Begriff der medizinischen Notwendigkeit der Heilbehandlung. Er legt dar, dass und weshalb bei der Beurteilung ein objektiver, vom Behandlungsvertrag mit dem Arzt unabhängiger Maßstab anzulegen ist. Darüber hinaus bewertet er die Kriterien der Vertretbarkeit und der Eignung der durchgeführten Maßnahme einschließlich des Prinzips der sogenannten „Stufendiagnostik“. Er macht klar, dass der Versicherer nur für solche Behandlungen leistungspflichtig ist, die „einem Leiden möglichst effektiv, gezielt, nachhaltig und konsequent entgegenwirken“.
Im Anschluss hieran wird in der Dissertation untersucht, wie der Versicherer im Rahmen der Leistungsprüfung auf eine Übermaßbehandlung reagieren kann.
Der Autor verfolgt hier einen interessanten neuen Ansatz: Der Versicherer dürfe seine Leistungen für alle Maßnahmen kürzen, die das medizinisch notwendige Maß quantitativ oder qualitativ überschreiten. Dabei sei es unerheblich, ob diese zahlenmäßig, funktional, ausstattungstechnisch zeitlich oder anders geartet seien. Soweit dagegen nur eine finanzielle Übermaßbehandlung vorliege, könne der Versicherer jedenfalls aus § 5 Abs.2 S.1 MBKK keine Kürzungsbefugnis ableiten.
In der Folge setzt sich Straub auch mit der Frage auseinander, ob der Versicherer seine Leistung wegen einer Verletzung der Schadensminderungsplicht kürzen dürfe. Diese gilt gem. § 194 Abs.1 S.1 i.V.m. § 82 VVG und entsprechenden Klauseln in den AVB auch in der PKV. Um das Thema abzurunden, geht der Autor in diesem Zusammenhang noch auf die Voraussetzungen und Rechtsfolgen eines aus dem Grundsatz von Treu und Glauben gem. § 242 BGB und dem Wucherverbot gem. § 138 BGB ableitbarem Kürzungsrecht ein.
Bei diesen Überlegungen sind nach diesseitiger Meinung auch rechtpolitische Aspekte zu berücksichtigen: Im Gegensatz zu anderen Sparten wickelt der private Krankenversicherer jährlich aus nahezu jedem Versicherungsvertrag mehrfach Versicherungsfälle ab. Dabei gilt es, das Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse des erkrankten VN an einer möglichst umfassenden Kostenerstattung im Einzelfall einerseits und das Interesse des Kollektivs an möglichst niedrigen Prämien andererseits so in den Griff zu bekommen, dass eine gute medizinische Versorgung zu bezahlbaren Prämien dauerhaft gewährleistet ist. Der BGH hat die dauernde Erfüllbarkeit der Versicherungsverträge im Bereich der substitutiven Krankenversicherung in seinem Urteil zur Beitragsanpassung vom 19.12.2018 (BGH vom 19.12.2018 – IV ZR 255/17 – VersR 2019, 283) als das „Hauptziel der Versicherungsaufsicht“ und als „Schutzgut von erhöhter Bedeutung“ bezeichnet. Gem. § 10 KVAV dürfen nur risikogerechte Prämien kalkuliert werden. Eine überhöhte Kostenerstattung führt deshalb zwangsläufig zu höheren Prämien.
Diesen Gedanken hat auch der Gesetzgeber aufgegriffen, indem er mit der zum 1.1.2009 eingeführten neuen Norm des § 192 Abs.2 VVG dem Krankenversicherer die Möglichkeit einer Leistungskürzung eingeräumt hat. In der Gesetzesbegründung (Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechts BT-Drucks. 16/3945) heißt es dazu, dass der Versicherer auch die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen wirksam steuern können soll.
Straub verweist in diesem Zusammenhang ergänzend und zu Recht auf die Rechte und Pflichten aus dem in den §§ 630a ff. BGB geregelten Behandlungsvertrag zwischen Arzt und Patient. Aus diesem folge zweierlei:
Zum einen treffe den Behandler eine wirtschaftliche Aufklärungspflicht. Diese bestehe auch bei einer möglichen finanziellen Überbelastung. Zum anderen müsse der private Krankenversicherer als „Passivenversicherer“ Rechnungen der Leistungserbringer wie Arzt oder Klinikum nur insoweit erstatten, wie diese auch den u.a. in der GOÄ oder im Krankenhausentgeltgesetz (KHEntG) enthaltenen Vorgaben entsprechen. Dies schließe unter den gesetzlich näher geregelten Voraussetzungen die Möglichkeit einer abweichenden Gebührenvereinbarung nicht aus. Diese müsse dann im Verhältnis VN zu Versicherer wiederum anhand der oben genannten teils abstrakten Vorgaben auf dem Umfang der Erstattungspflicht hin geprüft werden.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Dissertation die Fragen einer Leistungsprüfung und -kürzung in der PKV weitreichend untersucht. Der Autor zieht dabei auch die Gesetzeshistorie heran, um abschließend seine eigene Meinung zu vertreten. Soweit er in Abweichung von der herrschenden Meinung und der Rechtsprechung teilweise Zweifel an der Wirksamkeit oder Sinnhaftigkeit einzelner weniger Regelungen hat, ist umso mehr zu begrüßen, dass er im vierten Teil seiner Ausführungen auch Vorschläge zur Formulierung neuer Reglungen unterbreitet. Dies gilt u.a. für die angesprochene Klausel des § 5 Abs.2 MBKK und die Norm des § 192 VVG. Bei der Diskussion darüber sollten allerdings auch Praktiker einbezogen werden: So muss z.B. ausgeschlossen werden, dass eine pauschale Obergrenze für die Höhe der Erstattung in den AVB dazu führt, dass diese Obergrenze künftig zum Normalfall bei der Abrechnung durch die Leistungserbringer wird.
Die Vorschläge für eine Überarbeitung der bisherigen Texte werden abgerundet durch eine kurze Darstellung der Voraussetzungen für eine Bedingungsänderung in laufenden Verträgen.
Besonders zu betonen sind die in der gesamten Dissertation aufgezeigten praktischen Beispielsfälle. Dies vereinfacht das Verständnis der oftmals notwendigen abstrakten rechtsdogmatischen Ausführungen.
Das Werk endet mit einer übersichtlichen Kurzfassung aller wichtigen Aussagen.
Der Autor war vor seiner Dissertation wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Versicherungsrecht der Goethe-Universität Frankfurt/M. und Lehrbeauftragter der Université-Lumière Lyon II in Frankreich.
Der Rezensent, Bernhard Kalis, ist Rechtsanwalt in Bergisch Gladbach.
Grenzen der Leistungspflicht des privaten Krankenversicherers
Versicherungsfall, Übermaßbehandlung und Übermaßvergütung
Von Marcel Straub
(VVW GmbH, Karlsruhe 2018, 362 S., DIN A5, kart., ISBN 978-3-96329-026-8, 49 Euro; Bd. 39 der Frankfurter Reihe)