Gruppenversicherung: wirtschaftsmächtig, aber rechtsdefizitär

Gruppenversicherungen sind wirtschaftlich sehr bedeutsam. In der betrieblichen Altersversorgung werden in Deutschland ca. 30 % der Lebensversicherungen als Gruppenversicherung abgeschlossen. Hinzu kommen Gruppen-Krankenversicherungen von Arbeitgebern für Arbeitnehmer, Gruppenversicherungen von (Berufs-)Verbänden und Gewerkschaften für ihre Mitglieder, von Banken für Kreditnehmer (Restschuldversicherung), von Vereinen für Vereinsmitglieder, von Veranstaltern für Veranstaltungsteilnehmer etc. Im Gegensatz zur wirtschaftlichen Bedeutung steht eine gesetzgeberische Nichtbeachtung oder jedenfalls grobe Vernachlässigung der Gruppenversicherung.

Das gesetzgeberische Stückwerk – unlängst durch § 7d VVG über Gruppen-Restschuldversicherungen angereichert, aber keineswegs verbessert – ist in rechtssystematischer Hinsicht, vor allem aber unter dem Aspekt des Versichertenschutzes (als personell erweiterten Verbraucherschutz des VVG) in hohem Maße misslich. Die bestehende Rechtsunsicherheit – bereits über die Strukturen im Dreiecksverhältnis zwischen Versicherer, Gruppenspitze als Versicherungsnehmer und Gruppenmitglied als versicherter Person – erschwert den Rechtsschutz und führt zu mancher ergebnisbedenklichen Gerichtsentscheidung.

Da ein geschlossenes Regelungssystem fehlt, erfolgt die dogmatische Verortung und Abgrenzung zu anderen Rechtsinstrumenten bislang vor allem durch die Wissenschaft, allerdings mit einer sehr uneinheitlichen, verwirrenden Terminologie und Kategorienbildung. Es ist insoweit dringend angeraten, sich von dem unklaren Begriff „unechte Gruppenversicherung“ zu lösen, der ja lediglich klarstellt, dass es nicht um eine Gruppenversicherung geht. Stattdessen sollten nicht zur Gruppenversicherung gehörende Sachfragen jeweils konkret beschrieben und ihrer Qualifikation gemäß positiv benannt werden (z.B. als – nichtversicherungsrechtlicher – Rahmenvertrag). Der vorgeschlagene Verzicht auf den Begriff „unechte Gruppenversicherung“ impliziert zugleich, dass die „echte Gruppenversicherung“ nur als „Gruppenversicherung“ bezeichnet werden sollte, wie es die wenigen Gesetzesvorschriften zur Gruppenversicherung auch richtigerweise tun.

Zu den Strukturen im Dreiecksverhältnis zwischen Versicherer, Gruppenspitze und Gruppenmitglied

In der Rechtspraxis ist es nicht immer einfach, eindeutig zu bestimmen, ob ein Gruppenmitglied auf der Basis eines Rahmenvertrags durch Abschluss eines individuellen Versicherungsvertrags selbst Versicherungsnehmer geworden ist oder im Rahmen eines Gruppenversicherungsvertrags „nur“ Versicherter. Versicherungsvertragsrechtlich gibt es dogmatisch – ungeachtet der schwierigen Qualifikation im Einzelfall – jedoch nur zwei Strukturalternativen: Entweder das Gruppenmitglied ist Versicherungsnehmer eines – rechtlich als selbstständig zu behandelnden – individuellen Versicherungsvertrags oder das Gruppenmitglied ist Versicherter eines Gruppen-Versicherungsvertrags, also einer Gruppen-Fremdversicherung; tertium non datur. Die Entscheidung zwischen diesen beiden Alternativen ist nach den allgemeinen Regeln des Vertragsrechts und der Auslegung von Willenserklärungen zu treffen.

Zum Verhältnis von Aufsichts- und Vertragsrecht, insbesondere zum BaFin-Entwurf eines Rundschreibens „Hinweise zu echten Gruppenversicherungsverträgen“

Die BaFin hat am 25.3.2020 den Entwurf eines Rundschreibens „Hinweise zu echten Gruppenversicherungsverträgen“ zur Konsultation gegeben. Das Rundschreiben soll – bei Aufhebung der „alten“ sektoralen Rundschreiben zur Gruppenversicherung – „den kollektiven Verbraucherschutz bei echten Gruppenversicherungsverträgen auf ein einheitliches Niveau … führen“. Der Rundschreibenentwurf zielt – in Fortentwicklung der bestehenden sektorspezifischen Rundschreiben – auf aufsichtsbehördlich verfasstes soft law (aufsichtsbehördliche „Erwartungen“) für alle Arten von Gruppenversicherungen. Das geplante Rundschreiben enthält keine Anordnungen und schließt mit der Bemerkung, die BaFin werde nachvollziehen, inwiefern die Unternehmen den im Rundschreiben formulierten Erwartungshaltungen Rechnung tragen werden, und sie werde bei Bedarf in gebotener Weise auf ihre Erwartungshaltung hinweisen.

Eine hinreichende gesetzliche Grundlage für die von der Aufsichtsbehörde detailliert geäußerten Erwartungshaltungen ist teilweise nicht zweifelsfrei. So ist die BaFin nicht berechtigt, die unionsrechtlich vollharmonisierten Anforderungen an die Geschäftsorganisation von Versicherungsunternehmen inhaltlich zu modifizieren. Die unionsrechtliche Bindung der BaFin hinsichtlich verbindlicher Rechtsakte sollte auch durch aufsichtsbehördliche „Erwartungs-Rundschreiben“ nicht unterlaufen werden. Die von der Aufsichtsbehörde angestrebte Rechtssicherheit lässt sich mit dem geplanten bloßen „Erwartungs-Rundschreiben“ jedenfalls nicht erreichen. Notwendig ist eine grundlegende und systematische Erfassung der Gruppenversicherung im VVG.

 Zum Vertragsrecht der Gruppenversicherung de lege lata und de lege ferenda

Der Allgemeine Teil des VVG enthält keine spezifischen Vorschriften für die Gruppenversicherung, abgesehen von § 7d VVG über die Gruppen-Restschuldversicherung, der unlängst durch das IDD-Umsetzungsgesetz zusammen mit § 7a Abs. 5 VVG eingefügt wurde. Diese erst während des Gesetzgebungsverfahrens unter hohem politischem und zeitlichem Druck konzipierten Regelungen sind dogmatisch wenig durchdacht.

Rechtssystematisch sind versicherungsvertragliche Regelungen zu den Voraussetzungen des Entstehens von Versicherungsschutz für Gruppenmitglieder zu unterscheiden von Regelungen, die die Rechtsstellung eines Gruppenmitglieds als Versicherter ausgestalten. Die Rechtsstellung als Versicherter wird teilweise durch die allgemeinen Regelungen zur Versicherung für fremde Rechnung bestimmt, die mangels spezifischer gesetzlicher Regelungen grundsätzlich auch auf die Gruppenversicherung anwendbar sind. Es bleiben gleichwohl viele Einzelfragen ungeregelt. Es besteht daher gesetzgeberischer Handlungsbedarf.

De lege ferenda liegt es in der Freiheit des Gesetzgebers, sich von bestehenden Strukturen zu lösen und neue, strukturell eigenständige Regelungen zu schaffen. So wäre es denkbar, die Stellung des Gruppenmitglieds einer Gruppenversicherung zwar im Ansatz an der für das Versicherungsvertragsrecht grundlegenden Differenzierung von Versicherungsnehmer und Versichertem auszurichten, aber dennoch so eigenständig auszugestalten, dass im Ergebnis eine neue rechtsdogmatische Kategorie einer dritten Vertragspartei eigener Art entsteht (offen gelassen de lege lata von BGH VersR 2015, 318 [319]). Das Versicherungsvertragsrecht sollte sich jedoch nicht ohne Not von den allgemein anerkannten Grundlagen des Schuldrechts lösen. Außerdem sollte das Versicherungsvertragsrecht wie jedes Regelungssystem stets um möglichst einfache Strukturen bemüht sein. Deshalb sollte ein Reformgesetzgeber auf dem Gebiet der Gruppenversicherung systematische Brüche zu bestehenden Strukturen möglichst vermeiden.

Mit Blick auf die wirtschaftliche und verbraucherpolitische Bedeutung der Gruppenversicherung, enthalten die Principles of European Insurance Contract Law (PEICL) Modellregelungen (Art. 18:101 ff. PEICL 2016), die auf breiter rechtsvergleichender Basis geschaffenen sind. Sie geben einem nationalen Gesetzgeber, der eine systematische Regelung der Gruppenversicherung anstrebt, wertvolles rechtsvergleichendes Material. Die PEICL-Modellregelungen könnten aber nicht vollständig und nicht unmodifiziert in das VVG übernommen werden. Eine Ergänzung des VVG verlangt vielmehr, dass neu zu schaffende spezifische Regelungen zur Gruppenversicherung mit den allgemeinen Regelungen des VVG, insbesondere mit den Vorschriften zur Versicherung für fremde Rechnung, sorgsam abgestimmt werden.