VersR REPORT: Ausgewählte Rechtsprechung zum Versicherungsaufsichts- und Versicherungsunternehmensrecht

Die folgende Übersicht behandelt ausgewählte Gerichtsentscheidungen zum Versicherungsaufsichts- und Versicherungsunternehmensrecht.

I. Irrelevanz informeller behördlicher Äußerungen

In Rahmen seiner Entscheidung zum Abschluss echter Gruppenversicherungverträge (BGH v. 15.12.2022 – I ZR 8/19, ECLI:DE:BGH:2022:151222UIZR8.19.0, VersR 2023, 446, 449 Rz. 26 ff.) hat der BGH für die Praxis wesentliche Ausführungen zur Relevanz informeller aufsichtsbehördlicher Meinungsäußerungen gemacht. Dieser Aspekt war in dem entschiedenen Fall für die Frage wichtig, ob ein Verstoß gegen eine Marktverhaltensregelung nach § 3a UWG vorliegt.

Dazu führt der BGH aus, dass ein solcher Verstoß ausscheide, wenn die zuständige Behörde das fragliche Marktverhalten durch einen wirksamen Verwaltungsakt ausdrücklich erlaubt habe. Es lag jedoch nur ein Schreiben der IHK vor, in dem diese mitteilte, dass es sich bei dem fraglichen Verhalten nicht um eine erlaubnispflichtige Versicherungsvermittlung handele. Die BaFin hatte gleichfalls nur schriftlich mitgeteilt, dass die Tätigkeit keine Versicherungsvermittlung und kein Versicherungsgeschäft darstelle. Das Unternehmen war offenbar der Meinung, sich damit rechtlich ausreichend abgesichert zu haben.

Die Entscheidung zeigt jedoch für die Unternehmenspraxis eindrücklich, dass es eine trügerische Rechtssicherheit darstellt, wenn sich Unternehmen nur auf informelle Schreiben oder auf mündliche Aussagen der Aufsichtsbehörden verlassen und keinen feststellenden Verwaltungsakt bezüglich der klärungsbedürftigen Rechtsfrage vorweisen können. Rein informelle Äußerungen der Aufsichtsbehörden ändern somit nichts an dem zivilrechtlichen und gegebenenfalls strafrechtlichen Risiko eines illegalen Verhaltens. Dieses Risiko kann nur dann zuverlässig ausgeräumt werden, wenn die Unternehmen bei den Aufsichtsbehörden einen feststellenden Verwaltungsakt beantragen und dieser dann rechtskräftig wird. Die hier besprochene Entscheidung zeigt, dass ein ausreichendes Rechtschutzbedürfnis für eine derartige Antragstellung besteht.

II. Amtshaftung der BaFin im Wertpapiersektor

Die rechtliche Aufarbeitung des Wirecard-Skandals schreitet weiter voran. Hierzu hat das OLG Frankfurt eine wichtige Entscheidung zur Frage der Amtshaftung der BaFin gefällt (OLG Frankfurt v. 6.2.2023 – 1 U 173/22, ZIP 2023, 586). Da sich dieses Urteil mit dem sektorenübergreifenden Amtshaftungsausschluss in § 4 Abs. 4 FinDAG beschäftigt, ist die Entscheidung auch für den Versicherungssektor von Interesse.

Das Gericht sieht den Amtshaftungsausschluss als wirksam an, weil das zugrunde liegende europäische Richtlinienrecht keinen Individualschützenden Charakter habe (kritisch Renner, ZIP 2023, 729) und weil eine mögliche Grundrechtsverletzung den Ausschluss nicht tangiere. Das Gericht hat von einer Vorlage zum EuGH abgesehen und die Revision zum BGH nicht zugelassen. Die zum BGH eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde läuft dort unter dem Aktenzeichen III ZR 18/23.

Wie bereits die Anknüpfung des Gerichts an das sektorenspezifische europäische Richtlinienrecht zeigt, muss die Frage des Amtshaftungsausschlusses trotz der sektorenübergreifenden Regelung in § 4 Abs. 4 FinDAG stets bezogen auf den jeweiligen Sektor beurteilt werden. Daraus folgt zugleich, dass Urteile des europäischen Gerichtshofs zu einzelnen Sektoren nicht pauschal auf die übrigen Sektoren übertragen werden können. Ein Beispiel hierfür bietet die Erwägungen des BGH, dass die Einlagensicherung (die es nur im Bankensektor gibt) auch dazu dient, individuelle Schäden durch Fehler von Aufsichtsbehörden finanziell zu kompensieren (BGH v. 20.1.2005 – III ZR 48/01, VersR 2005, 1287). Eine derartige finanzielle Mindestkompensation ist für den Versicherungssektor gerade nicht vorgesehen. Daraus ergibt sich somit ein wesentliches Argument gegen die Unionsrechtskonformität der nationalen Regelung in § 4 Abs. 4 FinDAG und zugleich gegen die sektorenspezifische Regelung in § 294 Abs. 8 VAG (Bürkle, Sonderbeauftragter der BaFin, 2013, S. 413 f.).

Gleichfalls sektorenspezifisch ist die Frage der Grundrechtsbeeinträchtigung zu beurteilen. Hier spielt die versicherungsspezifische Schutzpflichtenjudikatur des BVerfG eine wesentliche Rolle. Das BVerfG hat (zeitlich später nach der vom OLG Frankfurt zitierten BGH-Entscheidung) spartenspezifisch gesetzgeberische Schutzpflichten formuliert (dazu Bürkle, Sonderbeauftragter der BaFin 2013, S. 423 ff.). Diese Schutzpflichten treffen dann nicht nur den Gesetzgeber, sondern zugleich die BaFin als Trägerin öffentlicher Gewalt. Es erscheint paradox, dass der Staat eine Aufsichtsbehörde speziell zum Schutz der Versicherten installiert, dass diese Behörde aber durch den kompletten Amtshaftungsausschluss individuelle Grundrechtspositionen der Schutzbefohlenen ohne jegliche Kompensation verletzen können soll (so aber VG Frankfurt/M. v. 11.2.2021 – 7 K 3632/19.F, VersR 2021, 887, 888).

III. Namentlichen Bekanntmachung von Verstößen durch die BaFin

Der VGH Kassel hat sich zu wichtigen Aspekten der aufsichtsbehördlichen Bekanntmachung von Verstößen geäußert (VGH Kassel v. 4.8.2022 – 6 B 134/22, juris). Dieser Beschluss erging im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens, mit dem sich die betroffene Bank gegen ihre namentliche Nennung nach § 60b KWG durch die BaFin gewendet hat. Die Entscheidung ist auch für Versicherungsunternehmen bedeutsam, da eine entsprechende Parallelregelung in § 319 VAG existiert, die eine vergleichbare Systematik aufweist und ebenfalls die Bekanntmachung von Anordnungen der BaFin im Anschluss an bestimmte Rechtsverstöße behandelt (speziell dazu Wendt, VersR 2016, 1277; allgemein zum Naming and Shaming Armbrüster/Böffel, ZIP 2019, 1885). Den gravierend negativen Charakter dieser Bekanntmachungen unterstreicht das Gericht, indem es von einer „anprangernden Wirkung“ und einem „Abschreckungseffekt“ für Kunden spricht.

Der VGH Kassel hat in seinem Beschluss festgestellt, dass eine namentliche Bekanntmachung der Regelfall sei und dass der BaFin insofern kein Ermessen zustehe. Etwas anderes gelte nur, wenn die gesetzlich nominierten Ausnahmen eingreifen würden. Das Argument der betroffenen Bank, dass die BaFin in der Vergangenheit bei vergleichbaren Fällen den Namen der betroffenen Bank jeweils nicht genannt habe, ändert nach Auffassung des Gerichts daran nichts. Denn selbst wenn dies zuträfe, so könne die betroffene Bank aus einer von § 60b KWG abweichenden bisherigen Verwaltungspraxis nichts herleiten. Dabei stützt sich der VGH auf den anerkannten Grundsatz, dass es keine Gleichheit im Unrecht gibt, aus dem folgt, dass kein schutzwürdiges Vertrauen in eine rechtswidrige Verwaltungspraxis existieren kann. Es gibt gerade kein Anspruch auf Wiederholung rechtlich fehlerhaften Handelns einer an Recht und Gesetz gebundenen Behörde.

Die bekannt gemachte Anordnung erging im Anschluss an eine örtliche Prüfung der Geschäftsorganisation „mit dem Schwerpunkt MaRisk“. Die betroffene Bank hatte alle tatsächlichen Feststellungen akzeptiert und den anschließenden Verwaltungsakt nicht angegriffen, so dass dieser bestandskräftig wurde. Die Bank hatte auch den von der BaFin geforderte Maßnahmenplan vorgelegt, um die identifizierten Mängel zu beheben. Dennoch kam es zu der namentlichen Bekanntmachung der Anordnung. Versicherungsunternehmen sind daher gut beraten, wenn sie Anordnungen der BaFin sehr genau prüfen, da alle Teile der Anordnung, die nicht angefochten werden, regelmäßig die Prangerwirkung des § 319 VAG auslösen werden. In diesem Kontext sollten sie zugleich kritisch bewerten, ob aufsichtsbehördliche Prüfungen, die zwar generell die Geschäftsorganisation betreffen, sich aber inhaltlich weitgehend auf informelle Rundschreiben der BaFin (wie MaGo oder VAIT) stützen, überhaupt rechtlich belastbar sind. (zu Recht kritisch etwa BeckOK VAG/Armbrüster/Böffel, § 23 Rz. 5.1, die darauf hinweisen, dass die MaGo nur mit großen Einschränkungen zur Auslegung herangezogen werden können).

Abschließend ist im Hinblick auf die generelle Bedeutung der Entscheidung des VGH Kassel noch zu beachten, dass das Gericht ausdrücklich darauf hinweist, dass es im Rahmen des Eilverfahrens nur die von der betroffenen Bank vorgebrachten Argumente geprüft hat. Sofern es weitere sachliche Argumente gibt, bildet der Beschluss des VGH Kassel somit nicht zwingend den Abschluss der rechtlichen Beurteilung.

IV. Kein Anspruch auf Benennung des Prämientreuhänders

Die Prämienanpassung in der privaten Krankenversicherung untere Mitwirkung des unabhängigen Treuhänders beschäftigt weiterhin die Gerichte. Nach dem der BGH entschieden hat, dass die Frage der Unabhängigkeit des Prämienänderungstreuhänders nicht von den Zivilgerichten, sondern von der BaFin zu prüfen sei, (BGH v. 19.12.2018 – IV ZR 255/17, ECLI:DE:BGH:2018:191218UIVZR255.17.0, VersR 2019, 283) hat sich diese Auseinandersetzung auf den Verwaltungsrechtsweg verlagert. Nachdem das VG Frankfurt/M. die Klage eines Versicherten auf Feststellung der Unzuverlässigkeit des Treuhänders als unzulässig abgewiesen hatte (Urt. v. 11.2.2021 – 7 K 3632/19.F, VersR 2021, 887) folgte nun die Auskunftsklage einer Anwaltskanzlei und einzelner Rechtsanwälte nach umfangreichem Widerspruchsverfahren gegen die BaFin vor dem VG Frankfurt/M. (VG Frankfurt/M. v. 27.4.2022 – 11 K 2930/19.F, juris) auf der Basis des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG). Hintergrund der Auskunftsklage war offenbar die anschließend geplante Geltendmachung von Amtshaftungsansprüchen. Die eingeklagten Auskünfte verteilten sich auf zwei Antragsblöcke.

Der erste Antragsblock betraf die Frage, ob sich Prämienänderungstreuhänder bei Krankenversicherungsunternehmen gegen Entgelt zur Mitwirkung an der Neueinführung von Tarifen verpflichtet haben, wenn ja, zu welchen Tätigkeiten sich welche Treuhänder gegenüber welchen Krankenversicherern verpflichtet haben und ob die BaFin in einer solchen Verpflichtung einen Verstoß gegen das Verbot sonstiger Dienstverträge (§ 12b Abs. 3 VAG a.F. und § 157 Abs. 1 VAG) sieht. Dieser Antragsblock hatte keinen Erfolg. Dazu entschied das Gericht, dass diese Auskunftsansprüche nach § 2 Nr. 1 IFG voraussetzten, dass dazu jeweils amtliche Informationen vorlägen, die BaFin aber zur Überzeugung des Gerichts dargelegt habe, dass bei ihr derartige Informationen nicht existierten.

Der andere Antragsblock betraf die Fragen, welche Treuhänder namentlich seit 2017 bestellt wurden, welche Krankenversicherungsunternehmen in der Zeit von 2007–2017 welche Personen als Treuhänder bestellt haben und welche Treuhänder vor dieser für ihre Tätigkeit als verantwortliche Aktuare bei welchem Krankenversicherer tätig waren. Dieser Antragsblock hatte ebenfalls keinen Erfolg. Gegen den Auskunftsanspruch spreche nach Ansicht des Gerichts das Ergebnis der nach § 5 Abs. 1 IFG vorzunehmenden Interessenabwägung. Das Interesse der Kläger überwiege das verfassungsrechtlich geschützte Interesse der Treuhänder am Schutz ihrer personenbezogenen Daten nicht. Das Gericht stellt zunächst fest, dass Verfahren i.S.v. § 5 Abs. 3 IFG nur behördliche Verfahren seien, die Zustimmung des Treuhänders aber in einem zivilrechtlichen Verfahren erfolgt sei. Das VG geht weiter davon aus, dass mögliche Interessen der Versicherten im vorliegenden Fall bei der Abwägung nicht zu berücksichtigen seien, da diese nur von den Versicherten selbst und nicht von Rechtsanwälten in eigener Sache geltend gemacht werden könnten. Das Gericht führt zur Begründung zudem aus, dass allein das Interesse von Rechtsanwälten an einer möglichst ökonomischen Mandatsbearbeitung den Schutz der personenbezogenen Daten der Treuhänder nicht überwiege. Das Gericht weist dazu darauf hin, dass die Rechtsanwälte die Namen der jeweils agierenden Treuhänder von ihren Mandanten in Erfahrung bringen könnten. Schließlich stützt sich das Gericht darauf, dass unstreitig bereits rund 50 % der agierenden Treuhänder namentlich bekannt seien und dass dies ausreichen würde, um eventuelle Amtshaftungsansprüche zu prüfen.

V. Gerichtliche Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern

Die Entscheidung des OLG Karlsruhe (OLG Karlsruhe v. 1.3.2022 – 1 W 85/21 (Wx), VersR 2022, 949) betrifft den seltenen, aber wichtigen Fall der gerichtlichen Abberufung von einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern auf Antrag des Aufsichtsrats. Eine derartige Abberufung setzt voraus, dass in der Person des betroffenen Aufsichtsratsmitglieds ein wichtiger Grund vorliegt (§ 103 Abs. 1 S. 1 AktG; Art. 9 Abs. l Buchst. c Ziffer SE-VO).

Der Beschluss des OLG Karlsruhe ist im Hinblick auf die Regelung in § 303 Abs. 3 VAG zugleich versicherungsaufsichtsrechtlich relevant. Denn diese Norm ermächtigt die BaFin dazu, einen entsprechenden Antrag bei Gericht zu stellen, wenn das Versicherungsunternehmen einem Abberufungsverlangen der Aufsichtsbehörde nicht nachgekommen ist. Erfasst werden die Fälle der Abberufung eines Aufsichtsratsmitglieds nach § 303 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 VAG, also wenn nach Nr. 1 die Qualifikationsanforderungen nach § 24 VAG nicht erfüllt sind oder wenn Geschäftsleiter vorsätzlich oder leichtfertig gegen die in Nr. 2 genannten rechtlichen Vorgaben verstoßen haben.

Das Registergericht hatte dem Antrag stattgegeben, das OLG Karlsruhe hat die dagegen gerichtete Beschwerde zurückgewiesen. Im konkreten Fall war der Betroffene als Gewerkschaftsvertreter Mitglied des Aufsichtsrates und zugleich Vorsitzender des Betriebsrates. Durch anonyme Hinweise von Whistleblowern wurde die Gesellschaft darauf aufmerksam, dass ein früheres Aufsichtsrats- und Betriebsratsmitglied mehrfach zu Zeiten von Betriebsratssitzungen im Urlaub war, ohne diesen zuvor beantragt zu haben. Das in diesem Prozess betroffene Aufsichtsratsmitglied hatte daraufhin die Anwesenheitszeiten für die Betriebsratssitzungen manipuliert, indem es Mails gelöscht hat, die Absagen für die jeweiligen Betriebsratssitzungen enthielten.

Das Gericht geht davon aus, dass ein wichtiger Grund vorliegt, wenn das Verbleiben des Aufsichtsratsmitglieds bis zum Ablauf seiner regulären Amtszeit unzumutbar sei, weil dem Verbleib als Organmitglied das Interesse der Gesellschaft an einem funktionsfähigen Aufsichtsrat entgegenstehe. Grundsätzlich beachtlich ist die Aussage des OLG, dass sich ein verhaltensbedingter wichtiger Grund nicht zwingend aus dem Verhalten als Aufsichtsratsmitglied ergeben muss. Nach Auffassung des OLG reicht es aus, wenn erkennbar ein Zusammenhang des Verhaltens mit der Aufsichtsratstätigkeit bestehe und sich das Verhalten auf die Aufsichtsratstätigkeit negativ auswirke. Im konkreten Fall hat das Verhalten des Aufsichtsratsmitglieds in seiner Betriebsratstätigkeit nach Meinung des Gerichts gezeigt, dass die erforderliche persönliche Zuverlässigkeit und Integrität nicht vorlag.

VI. Pflichtverletzung bei Verstoß gegen Unternehmensinnenrecht

In dem vom OLG Nürnberg entschiedenen Fall (OLG Nürnberg v. 30.3.2022 – 12 U 1520/19, juris) kam es in einem Unternehmen wiederholt zu Manipulationen bei der Abrechnung von Tankkarten, u.a. dadurch, dass die internen Vorgaben eines eingeführten Vier-Augen-Systems nicht eingehalten wurden. Dem Geschäftsführer der GmbH war bekannt, dass die Vorgaben dieses Systems mehrfach verletzt wurden, das er selbst installiert hatte.

Das OLG Nürnberg hat in seiner Entscheidung dazu festgestellt, dass auch die Nichteinhaltung von selbst geschaffenem Unternehmensinnenrecht gesellschaftsrechtlich eine Pflichtverletzung und damit eine Haftung der Geschäftsleiter auslösen könne. Diese Feststellung gilt nicht nur für den im entschiedenen Fall betroffenen Geschäftsführer einer GmbH, sondern zugleich für den Vorstand einer Versicherungs-AG oder eines VVaG. Das relevante Unternehmensinnenrecht besteht gesellschaftsrechtlich z.B. aus Satzungen Geschäftsordnung oder Betriebsvereinbarungen.

Das insoweit relevante Unternehmensinnenrecht wird für Versicherungsunternehmen noch durch explizite Vorgaben im Versicherungsaufsichtsrecht angereichert. Das gilt vor allem für die diversen Leitlinien, die Unternehmen nach dem VAG im Rahmen der Governance (Geschäftsorganisation) obligatorisch beschließen und praktizieren müssen. Die Geschäftsleiter von Versicherungsunternehmen sind daher gut beraten, wenn sie die Einhaltung dieser Leitlinien als Teil des Innenrechts überwachen lassen, etwa durch die Compliance-Funktion oder durch die Interne Revisionsfunktion. Die Unterstützung durch diese beiden Funktionen ändert freilich nichts daran, dass die Geschäftsleiter auch im Hinblick auf die Beachtung dieser Leitlinien weiterhin die Letztverantwortung für die Compliance in den von Ihnen geführten Unternehmen tragen.

VII. Kündigungsfrist bei internen Ermittlungen

Im Rahmen von Compliance-Untersuchungen werden häufig Tatsachen entdeckt, die eine außerordentliche Kündigung von Mitarbeitern rechtfertigen können. Das BAG hat in seiner Entscheidung hier bezüglich des Beginns der Zwei-Wochen-Frist für die außerordentliche Kündigung (§ 626 Abs. 2 S. 1 BGB) grundlegende Vorgaben formuliert (BAG v. 5.5.2022 – 2 AZR 483/21, NZA 2022, 1276). Gerade bei umfangreichen internen Ermittlungen war fraglich, ob die Kündigungsfrist bereits bei relevanten Kenntnissen bezüglich eines einzelnen Mitarbeiters anläuft (so das LAG Baden-Württemberg in der Vorinstanz). Diese Sichtweise brächte erhebliche Probleme bei umfangreichen Compliance-Untersuchungen, da weitere Beteiligte vorgewarnt wären und die Gefahr des Verlusts von Beweismitteln naheläge. Außerdem bestünde das Risiko, dass bei einer frühzeitig ausgesprochen außerordentlichen Kündigung die gesetzlich erforderliche Abwägung aller relevanten Umstände noch nicht erfolgen konnte, so dass die entsprechende Kündigung bereits deshalb angreifbar gewesen wäre.

Das BAG hat im Rahmen der für die Kündigungsentscheidung vorzunehmende Gesamtabwägung darauf hingewiesen, dass der Tatbeitrag eines Einzelnen im Zusammenhang mit den Tatbeiträgen weiterer Beteiligter zu bewerten sei. Für die Kündigung und den Fristbeginn sei es daher wesentlich, die Mitwirkungsanteile aller involvierten Arbeitnehmer und ihrer jeweiligen Rollen zu kennen. Das Gericht kommt daher zu dem Ergebnis, dass eine Kündigung nicht ausgeschlossen sei, wenn die Kündigungsberechtigten erst dann über die (Zwischen-)Ergebnisse der Compliance-Untersuchung informiert werden, wenn die Gesamtbewertung des fraglichen Verhaltens möglich ist. Kritisch ist insofern die Personalunion zwischen dem Leiter Personal und dem Inhaber der Compliance-Funktion, wenn der Personalleiter kündigungsberechtigt ist und er als Teil des Ermittlungsteams bereits während der laufenden Ermittlungen kündigungsrelevante Informationen erhält. Das BAG schränkt sein Ergebnis jedoch zweifach dahingehend ein, dass die internen Ermittlungen zügig durchgeführt werden müssen und die Kündigungsberechtigten zeitnah informiert werden müssten sowie dass die Identifikation von Präventionsmaßnahmen keine Verzögerung rechtfertige, da diese nicht mehr der Aufklärung dienten.